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2011-06-11 Schauspielkritik:

Jan Philipp Gloger macht Jelineks „Winterreise“ in Mainz zum intellektuellen Vergnügen


Elfriede haust in Schuberts Flügelkasten


 
ape. Mainz. Sie sei „ein Zyklus schauerlicher Lieder“, sagte Franz Schubert über seine 1827 vollendete „Winterreise“. Gut 180 Jahre später ließ sich Elfriede Jelinek von diesen Liedern zu einem Text inspirieren, der kein Theaterstück im eigentlichen Sinne ist, dennoch derzeit Regisseure zuhauf reizt. Im Februar 2011 an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt, kam die Jelinek‘sche „Winterreise“ seither etwa in Berlin und Oberhausen auf die Bühne, zuletzt in Frankfurt. Jetzt legte auch das Staatstheater Mainz mit einer Inszenierung seines leitenden Regisseurs Jan Philipp Gloger im TiC Werkraum nach.

 
Der Werdegang des 30-jährigen Gloger wird allseits aufmerksam verfolgt. 2007 als freier Regisseur gestartet, reüssierte er rasch mit Schauspieleinrichtungen an großen Häusern und bei wichtigen Festivals. 2010 stieg er mit dem „Figaro“ in Augsburg auch ins Opernfach ein, lieferte eben eine viel beachtete „Alcina“ an der Semperoper Dresden ab. Fürs kommende Jahr vertrauen ihm die Bayreuther Festspiele den „Fliegenden Holländer“ an. In Mainz selbst hatte er 2009 mit Schnitzlers „Traumnovelle“ einen interessanten, mit Schillers „Kabale und Liebe“ 2010 einen hinreißenden Abend.

War andernorts die „Winterreise“ als selbstreflexive Wanderung eines in mehrere Aspekte/Figuren aufgespaltenen Ichs mal in Sommergrün, mal in Schneegestöber gestellt, lässt Gloger im TiC drei junge Frauen und eine alte auf nachtschwarzer Leerbühne spielen. Einziges Requisit dort: Ein Flügel – daraus melancholischer Schubert klingt oder volkstümliche Tanzteemusik schrummelt oder moderner Techno dröhnt. Das Instrument wird überraschend zudem als Schreibmaschine genutzt, als Portal ins Internet, als Sarg für den Vater/Gatten oder Aufbewahrungsort für die Jelinek-typische Zöpfchenperücke.

Wie der „schauerliche“ Schubert-Zyklus, so spricht auch der Text der österreichischen Literatur-Nobelpreisträgerin von Einsamkeit, Vergänglichkeit, Vergeblichkeit, von Sehnsucht nach Gesellschaft und zugleich dem Leiden an derselben. Anfangs palavern die jungen Frauen über das unaufhaltsame Vergehen der Zeit, über das elende fortwährende „Vorbei“ nie festhaltbarer Augenblicke. Das dreigeteilte Ich hadert mit der Flüchtigkeit seines Daseins – doch die Damen in weißen Blusen und schwarzen Businesshosen hecheln die existenzielle Krisis mit der coolen Schnoddrigkeit heutiger Cafébar-Konversation durch.

Sobald aber Monika Dortschy übernimmt, die Seniorin, ist Schluss mit lustig: Sie zeigt die Schrunden her, die der „Vorbei“-Zug des Lebens tatsächlich in Seele und Leib eingräbt. Altersweise, alterszornig, auch alterswehleidig spielt sie wie Schuberts „Leiermann“ zum Ende des Liedzyklus „die alte Leier“ vom geschundenen, unverstandenen, ungeliebten, verlorenen Ich: Eine große Suada, mit der sich zugleich Autorin Jelinek selbstironisch den öffentlichen Wölfen zum Fraß vorwirft.

Die Mainzer Inszenierung spürt im verzweigten Endlosstrom aus sprachlich komplexen Gedanken, Verweisen, Hintersinnig- und Tiefsinnigkeiten eine der bloßen Lektüre entgehende Lakonie, ja sogar Humorigkeit auf. So werden die 90 Minuten im TiC zum kurzweiligen Wechselbad zwischen teils schier augenzwinkerndem Räsonieren über die ewige Fragwürdigkeit der Existenz und bitterböser Zeitkritik. Gloger versteht es, die natürlichen und professionellen Anlagen von Dortschy, Johanna Paliatsou, Lisa Mies und Karoline Reinke trefflich zu fordern – um einen neuzeitlichen Frauentyp in fein unterschiedene Varianten aufzuspalten, die schließlich gar nicht anders können, als mit sich selbst die ganze Menschenwelt infrage zu stellen.

„Winterreise“ in Mainz: ein tragikomisches intellektuelles Vergnügen.                                                                     Andreas Pecht

Infos: www.staatstheater-mainz.com

(Erstabdruck 12. Dezember 2011)

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