Thema Gesellschaft / Zeitgeist
Thema Kultur
homezur Startseite eMail an Autor • eMail to author • contact auteureMail an den Autor Seitenübersicht • sitemap • Plan du siteÜbersicht sitemap Seite drucken • site print • imprimer siteArtikel drucken

2011-11-21 Essay:

Reality-TV mästet die dunkle Seite der Unterhaltungslust

 

Die Privatsphäre wird
zu Markte getragen


 
ape. „Wir schämen uns für den Zeitgeist.“ Der knappe, aber intensiv nachschwingende Satz stammt aus einem Artikel im Journal der Rhein-Zeitung von diesem Wochenende. Dort beleuchtete Redakteurin Vera Müller, wie es der jungen Sarah H. als Kandidatin der SAT1-Show „Schwer verliebt“ ergangen ist. Besser gesagt: Wie das Fernsehen deren naive Hoffnung, aus der Kuppelshow ein Quäntchen Lebensglück mitzunehmen, ausnutzt und sie zur Lachnummer macht. Sarahs‘ Fall ist tragisch – aber kein Einzelfall. Er darf als Symptom gelten für eine Strömung in der multimedialen Gegenwart: Die Privatsphäre wird auf immer breiterer Front zum Gegenstand öffentlicher Zurschaustellung und Inszenierung.


Diese Strömung greift nach sämtlichen Bereichen des Privaten, seien sie räumlicher, sozialer, geistiger, körperlicher oder seelischer Art. Mal wird die Wohnung vor laufender Kamera durchleuchtet und umgebaut. Mal legen Super-Nanny, Schuldenberater oder Starköche vor  Millionenpublikum private Probleme, Ängste, Schwächen von Einzelpersonen, Familien, Gruppen bloß. Dann wieder werden Kandidaten – ähnlich Versuchskaninchen im Labor – in die Selektionsmaschine obskurer Talent-,  Superstar- oder Psycho-Wettbewerbe gespannt. Auf der untersten Ebene schließlich hetzt man vorzugsweise Probanden aus schwierigen sozialen Milieus aufeinander: Auf dass sie sich fernsehöffentlich fetzen, ausrasten, verzweifeln, verbrüdern, verlieben, paaren – lächerlich machen.

Reality-TV werden jene Fernsehformate genannt, die vorgeben, vom wirklichen Leben geschriebene Geschichten authentisch abzubilden. Doch real und authentisch ist daran meist wenig – auch in jener Mehrzahl von Sendungen, wo nicht Schauspieler in die Kandidatenrolle schlüpfen. Denn einerseits sind die „Versuchsanordnungen“ oft von absurder Künstlichkeit, andererseits überlassen ihre Macher kaum je etwas den Zufällen des wirklichen Lebens. Die Regie sorgt für Ablauf nach Plan. Und der Plan zielt weder darauf, den Kandidaten Gutes zu tun, noch will er dem Publikum zu Erkenntnisgewinn verhelfen. Er hat primär im Sinn: Effekte erzielen, die möglichst viele Zuseher anlocken. Denn nur bei hohen Einschaltquoten verdienen Privatsender richtig Geld.

„Wir schämen uns für den Zeitgeist.“ Ohne ihn aber wären die besagten Sendungen gar nicht möglich. Der Zeitgeist führt den Sendern ein unerschöpfliches Reservoir bereitwilliger Kandidaten zu. Er ist es auch, der Millionen Zuseher an Reality-TV Gefallen finden lässt. Es sind also immer drei Parteien, die sich auf ein solches Format einlassen: Die Sender und ihre Spielleiter oder Juroren, die Kandidaten, schließlich das Publikum. Was hat es auf sich mit dem Zeitgeist, etwa auf Seiten der Kandidaten?

Ob es sich um die harmlosen Formate der Gastwirts- oder Schuldnerberatung handelt, um schrille Casting-Shows oder um Trash-Sendungen wie „Schwer verliebt“ und „Frauentausch“: In allen Fällen dürfen die Kandidaten keine Scheu haben, ihre Privatsphäre bis hin zu intimen Gefühlen öffentlich zu machen. Die Bereitschaft dazu hat in jüngerer Zeit allgemein exorbitant zugenommen, ist nicht zuletzt auch per Internet zu einem Massenphänomen geworden. Dies Phänomen bricht radikal mit der althergebrachten bürgerlichen Tugend, wonach persönliches Glück oder Unglück, überhaupt private Intimitäten nicht an die große Glocke zu hängen sind. Es ist schwer zu sagen, ob das Reality-TV diesen Paradigmenwechsel in der Gesellschaft ausgelöst hat oder ob es sich bloß einen ohnehin stattfindenden Zeitgeistwandel profitabel zunutze macht.

Ein zweiter Faktor spielt für die Kandidaten eine große Rolle: Allesamt erhoffen sie sich vom Fernsehen Hilfen, Förderung, Chancen für ihr persönliches Leben. Träume von Karrieren als Model oder Popmusiker, vom Finden der großen Liebe, vom Überwinden der eigenen Schulden-, Wohn- oder Familienmisere: Das Fernsehen erscheint nicht länger nur als Informations- und Unterhaltungsmedium, sondern wird von vielen Zeitgenossen als aktiv handelnder und schlagkräftiger Beistand, Anwalt, Freund, Helfer begriffen. Natürlich ist das eine Illusion. Aber sie wird von den Sendern intensiv gepflegt und ist inzwischen so mächtig, dass viele junge Leute beispielsweise die Teilnahme an Casting-Shows für einen realistischen Weg zum (Traum-)Beruf halten. Dass nur ganz wenige ihn beschreiten können, wird als normal erachtet. Ebenso, dass auf einen Gewinner Abertausende vorweg abservierter Bewerber kommen. Solche Formate zelebrieren – und etablieren – den Wettbewerbsgedanken in seiner zynischsten Ausprägung.

Über all dies müsste man gar nicht reden, gäbe es kein Massenpublikum dafür. Doch macht es sich zu leicht, wer jetzt einfach Dumpfheit und Niedrigkeit des neuzeitlichen Massengeschmacks geißelt. Sensationsgier ist so wenig ein Privileg der Moderne wie Schadenfreude oder die Lust auf den Blick durch fremde Schlüssellöcher. Man muss nicht gleich den Massenjubel über die Schlächterei in der antiken Arena bemühen, um zu erkennen, dass des Menschen Unterhaltungsbedürfnis seit jeher auch eine dunkle Seite hat, die das Mitgefühl zeitweise außer Kraft setzt. „Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen“, heißt es deshalb im Volksmund treffend.

Neu ist allerdings die schiere Menge an Futter, mit der die heutige Fernsehlandschaft quasi rund um die Uhr diese dunkle Seite mästet. Neu ist auch und für eine humane Gesellschaft eigentlich unerträglich, wie manche Formate die naiven Hoffnungen der Kandidaten versklaven. Wie sie zwecks billiger Effekthascherei Individuen entstellen und gehässig vorführen, die eher des Mitgefühls und des Schutzes bedürfen. Hier geht dem Zeitgeist der Anstand verloren.                                              Andreas Pecht            


(Erstabdruck 21. November 2011)

---------------------------------------------------------
Wer oder was ist www.pecht.info?
---------------------------------------------------------
 
Diesen Artikel weiterempfehlen was ist Ihnen dieser Artikel
und www.pecht.info wert?
 
eMail an Autor • eMail to author • contact auteureMail an den Autor
eMail an webmaster • eMail to webmaster • contact webmastereMail an webmaster Seitenanfang • go top • aller en-hautan den Anfang Seite drucken • site print • imprimer siteArtikel drucken