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2011-09-29 Analyse:

Diskussion um Renteneintrittsalter läuft falsch

 

Längere Lebensarbeitszeit setzt humanere Arbeitswelt voraus


 
ape. Sie begleitet uns seit vielen Jahren, wird wohl leider auch unsere Kinder und Enkel begleiten: die Diskussion ums Renteneintrittsalter. Die Anhebung auf 67 Jahre ist beschlossen. Doch schon bevor der erste  Betroffene übers 65. Lebensjahr hinaus arbeiten muss, wird hier und da und dort bereits über die Rente mit 69 oder 70 oder gar noch später philosophiert.                                      

Mal sind‘s  Bevölkerungswissenschaftler, meist Wirtschaftsvertreter oder Politiker, die das Gespräch darauf bringen – aber konkrete Absichten entschieden dementieren, sobald ihnen die Empörung der Öffentlichkeit entgegenschlägt. Es handle sich doch nur um grundsätzliche Gedankenspiele vor dem allerdings ernsten Hintergrund des demographischen Wandels, heißt es dann unschuldig. Doch diese Spiele folgen der „Methode „weichklopfen“: Damit wurde bereits seit den 1990ern die Einführung der Rente mit 67 propagandistisch vorbereitet und schließlich 2007 von der Parlamentsmehrheit gegen die Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung beschlossen.

Setzte sich da politische Vernunft und Zukunftsverantwortung gegen tumben Volksegoismus durch? So wird es gerne dargestellt, aber so ist es nicht; zumindest nicht so einfach. Gleiches gilt für das beliebte Argument, die Deutschen würden immer älter, blieben immer länger fit und damit arbeitsfähig. Überhaupt wollten viele liebend gern auch im Rentenalter weiterarbeiten. Diese Betrachtungsweise ist bestenfalls eine naive Idylle-Vorstellung gehobener Wohlstandbürger, andernfalls eine gezielt verbreitete Halbwahrheit.

Denn Zuwächse an Lebensalter und Altersfitness sind Durchschnittswerte, hinter denen sich in der Realität extreme individuelle Unterschiede verbergen. Man kann vielleicht vier Hauptgruppen von Rentenanwärtern unterscheiden. Die erste – auch jenseits der 60 noch fit, fidel und womöglich mit Freude bei ihrer Arbeit – würde tatsächlich gerne länger dabeibleiben. Die zweite muss wegen zu geringer Rente so lange wie irgend möglich irgendwas arbeiten, weil das Rentensystem die Wirkungen des ungerechten Lohnsystems sowie die Unwägbarkeiten des Arbeitsmarktes nicht nur auf die Altersphase überträgt, sondern sie dort noch verschärft. Für eine dritte Gruppe ist die Vorstellung, länger arbeiten zu müssen, ein Albtraum; sie möchte möglichst bald aus ihrer unbefriedigenden, entfremdeten, dumpfen und vielleicht schikanösen Tretmühle heraus. Die Mitglieder der vierten Gruppe schließlich können gar nicht länger arbeiten, weil sie nach 30 oder 40 Berufsjahren ausgezehrt, ausgebrannt, verbraucht, krank sind.

Das große Manko des deutschen Rentensystems war seit jeher, dass es völlig unterschiedliche Menschen und Situationen ordnungspolitisch über einen Kamm schert: 65, dann 67 Jahre, sind das Maß der Dinge, sind die für alle Rentenversicherten gültige Einheitsnorm. Wer von dieser standardisierten Arbeitspflicht abweicht und früher aussteigen will oder muss, der wird mit Rentenschmälerung bestraft. Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck lag deshalb im Grundsatz richtig mit seinem Dachdecker-Beispiel und der daraus abgeleiteten Forderung: Es müsse bei der Anhebung des allgemeinen Renteneintrittsalters Sonderregelungen mit vorfristiger Vollverrentung für körperlich sehr strapaziöse Berufe geben.

Allerdings greift die Forderung zu kurz, weil sie nur auf den Verschleiß infolge körperlicher Schwerarbeit abhebt. Dass die Arbeitswelt unserer Tage durch maßlose Beschleunigung und Verdichtung der Arbeit selbst bei körperlich scheinbar leichten Tätigkeiten Menschen auszehren und ihre Lebenskraft vorfristig verbrennen kann, findet auch bei Beck noch keine Berücksichtigung. Alle bisherigen deutschen Diskussionen um Anhebungen des Renteneintrittsalters sehen weitgehend von dem Umstand ab, dass die Rationalisierung der Arbeitsprozesse, die stete Erhöhung des Arbeitsdrucks sowie vermehrt zugleich die Ausdehnung der Arbeitszeit in jüngerer Gegenwart  vielfach die sozialen, ja vielleicht sogar die biologischen Grenzen der menschlichen Belastbarkeit erreicht hat. Das macht unsere Rentendiskussionen völlig weltfremd, ungerecht und am Ende auch unmenschlich.

Stehen für Ältere überhaupt genügend und ihrem spezifischen Leistungsvermögen angemessene Arbeitsplätze zur Verfügung? Das ist eine durchaus wichtige Frage, wenn die Anhebung des Rentenalters nicht nur eine versteckte Rentenkürzung sein soll. Aber es ist nicht die eigentliche Grundfrage. Die lautet: Wie muss unsere Arbeitswelt umgestaltet werden, damit nicht jede Menge Rentenversicherter schon 40-, 50- oder 60-jährig alle Lust an ihrer Tätigkeit verlieren, gar mit körperlichen Deformationen oder Depressionen, Burn-Out-Syndromen und Herzinfarkten fallen wie die Fliegen? Da mag es hinsichtlich der psychischen Erkrankungen in den aktuellen Nachrichten zwar Übertreibungen geben. Dennoch weist die sich weiter verbreitende Symptomatik auf die tendenzielle Überforderung einer wachsenden Zahl von Menschen hin, die ohne Hilfen und pharmakologische Hilfsmittel des Problems kaum mehr Herr werden.

Darf das sein? Sieht so Fortschritt aus? Was die Rente angeht, drängt sich folgender Gedanke auf: Wer über Anhebung des Renteneintrittsalters nachdenkt, müsste zugleich über Entschleunigung, Verkraftbarkeit, Vermenschlichung der gesamten Lebensarbeitszeit nachdenken. Denn Jahrzehnte  Dauerstress und Anstrengung am Limit oder darüber sind objektiv unvereinbar mit einer zwangsweisen Verlängerung der Arbeitspflicht für alle. Will man absurderweise dennoch beides – und Politik wie Wirtschaft hatten bislang stets nur diese eine Richtung vorzuweisen –, stehen wir plötzlich vor einer weiteren Frage: Wie lange noch können Gesundheitswesen und Medizinfortschritt die daraus erwachsenden Humanschäden auffangen und vorübergehend reparieren?             Andreas Pecht
 

(Erstabdruck Ende September/Anfang Oktober 2011)

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