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2011-05-22 Ballettkritik:

Maifestspiele Wiesbaden: Abschied von der Compagnie des 2009 verstorbenen Choreographen mit „Nearly 90²“

Die letzte Arbeit der Ballettlegende
Merce Cunningham


 
ape. Wiesbaden. Wer sich der Umstände bewusst war, für den wurde der Abend zu einem denkwürdigen Moment des Abschieds: Bei den Maifestspielen Wiesbaden gastierte jetzt die letzte Compagnie vom Merce Cunningham, dem amerikanischen Altmeister der modernen Ballettavantgarde. Die vom 90-jährigen Choreographen bis zu seinem Tod 2009 noch selbst geführte Truppe zeigte im Rahmen ihrer Abschiedstournee um die Welt dessen letztes Stück „Nearly 90²“ (= Tourneeversion von "Nearly 90"). Wie von Cunningham verfügt, wird das Ensemble sich Ende des Jahres nach einem Auftritt in New York auflösen.
 

Damit schließt ein bedeutendes Kapitel zeitgenössischen Balletts, das in die 1950er zurückreicht. Über sechs Jahrzehnte führte Cunningham dem modernen Tanz maßgebliche Impulse zu – oft zur Musik seines langjährigen Gefährten John Cage und in Bühnenbildern von Robert Rauschenberg. Als „das letzte Genie der Moderne“ würdigte die FAZ Cunningham anlässlich seines 90. Geburtstages am 16. April 2009.  Am selben Tag kam „Nearly 90“ in den USA zur Uraufführung. Es sollte kein weiteres Werk folgen: Der Choreograph starb drei Monate später.

Das Stück beginnt in schierer Dunkelheit und endet nach 90 Minuten in hellem Licht. Was dazwischen geschieht, wirkt, als habe der greise Cunningham noch einmal die eigene Entwicklung abgeschritten. Allerdings gilt das Rückblicken nicht seinen oft auch umstrittenen Experimenten mit Neuer Musik, Fluxus-Bühnenbildern und Aufführungsorten wie Straßen, Schulen, Fabrikhallen. Diese eineinhalb Stunden sind dem puren, nur mit sich selbst beschäftigtem Körperausdruck gewidmet. „Nearly 90²“ ist Erinnerung an Erkundungen neuer Tanzfiguren.

War „Winterbranche“ (1964) eine Studie über das Fallen, so geht es hier vor allem um Gleichgewicht. Wie weit können Solotänzer sich aus ihren zentralen Körperachsen herausbeugen, ohne die Balance zu verlieren? Wie können zwei oder mehr Tänzer durch gegenseitiges Fassen, Halten, Stützen dieses Prinzip erweitern? Das sind tanztechnische Fragestellungen, die auf der Bühne zu tanzästhetischen Antworten führen: In ruhigem, konzentrierten Tun bauen die Akteure  sich einzeln, als Paar oder Gruppe Muskel für Muskel, Haltung für Haltung zu skulpturenartigen, lebenden und sich beständig verändernden Gebilden auf.

Diese Arbeit hat nichts zu erzählen, zielt auch nicht auf beeindruckende Effekte. Eher wirkt sie in sich versunken, auf den ersten Blick sogar sehr schlicht. Doch bei genauem Hinschauen entpuppt sich die Schlichtheit als tänzerische Virtuosität auf höchstem Niveau und beglückende Schönheit ganz eigener Art von völlig eigenständigem Wert. Eigenständig auch gegenüber den elektronischen Klängen, mit denen die Musiker David Behrman und Takehisha Kosugi „Nearly 90²“ lautstark überschütten.

Wie schon bei älteren Werken Cunninghams, erschließt sich dem Betrachter kaum, was Tanz und Ton miteinander zu tun haben. Außer, dass die hektisch rauschende, schwingende, heulende bis chaotische Klangkulisse der altersweisen Ruhe und Klarheit dieses letzten Tanzwerkes des Amerikaners einen extremen Kontrast entgegensetzt. Warum, wozu? Ein Geheimnis, das wohl Geheimnis bleiben wird.                                                                 Andreas Pecht


(Erstabdruck 24. Mai 2011)

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