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2010-01-26a Kolumne/Glosse:

 

Bin ich krank im Kopf?

 
ape. Der 13. Januar 2011 wird den deutschen Kolumnisten (bloß nicht verwechseln mit Kommunisten!) als historischer Tag erinnerlich bleiben: Dem verehrungswürdigen, allweil gelassenen Kollegen Harald Martenstein („Zeit-Magazin“) war der Kragen geplatzt. Nie hatte er sich bis dahin mit Politik abgeben wollen. Doch bei der Zeitungslektüre zum diesmaligen Jahreswechsel führte ihn die Betrachtung angekündigter Preis- und Abgabenerhöhungen zur ultimativen Frage: „Bin ich krank im Kopf, oder ist das System krank?“ Martenstein kapierte noch, warum die Krankenkassenbeiträge steigen. Dass aber zum steigenden Beitrag obendrein ein Zusatzbeitrag erhoben wird, an dieser Logik verzweifelte der sonst so kluge Kopf. Ebenso daran, dass die Benzinteuerung begründet wurde mit der Einführung einer neuen Benzinsorte, die „Gras oder Kuhdung enthält“.

Wie meinte mein Freund Walter nach der „Zeit“-Lektüre: „Er kann einem leid tun, der Harald. Denn es wird ihm nun gehen wie dir: Erstmal den kleinen Finger ins realpolitische Dornengestrüpp gesteckt, verfängt er sich gleich heillos darin. Den geplatzten Kragen kriegt er so bald nicht wieder zu.“ Tatsächlich legte Martenstein eine Woche später schon ein „politisches Manifest“ mit radikalen Forderungen an Parteien und Regierung nach. Darunter diese: Es soll nicht alles immer komplizierter, schneller, glatter werden. Oder diese: Wenn etwas funktioniert, muss es nicht geändert werden. Oder diese: „Die Regierung soll mir das Gefühl geben, dass sie mich für intelligent hält, nicht für dumm.“

Ja, die Verlockung ist groß, die für querulierlustige Spitzfedern vom hanebüchenen Politgeschäft  ausgeht. Da entdeckt die Verkehrspolitik urplötzlich, dass sie „Börsengang“ jahrelang   fälschlicherweise  für eine schienentaugliche Fortbewegungsart gehalten hatte. Nun soll bei der Deutschen Bahn, angeblich, für viel Geld wieder repariert werden, was über Jahrzehnte autohörig und börsengängig an Eisenbahn-Infrastruktur zerdeppert wurde. Ein nicht minder grandioser Stoff für Kolumnisten steckt in der Dioxin-Eierei. Was hat er sich aufgeregt, der Hering aus Hachenburg, der in Mainz den Wirtschaftsminister gibt: Es sei absurd, dass jetzt die Futtermittelindustrie nach staatlichen Vorschriften ruft, wo doch die Industrie in der Pflicht stünde, für Ordnung zu sorgen.

Werter Herr Minister: So naiv dürfen Weinköniginnen oder kleine Brüder sein, aber doch keine gestandenen Sozialdemokraten. Würden Letztere ihre Klassiker lesen, sie wüssten, dass der Glaube an Selbstregulation des Kapitals ein sehr ungesundes Opiat ist. Denn: Für ein paar Prozent Extraprofit begeht der Kapitalismus, wenn man ihn lässt, jede Sauerei. Dies Faktum beschrieb ein rauschebärtiger Sozi aus Trier schon vor 160 Jahren. Die Betonung liegt auf „wenn man ihn lässt“. Ihn nicht zu lassen, dabei steht nun mal primär die Politikerzunft in der Pflicht. Oder müssen Wutbürger das übernehmen?

Wenn Martenstein sich jetzt Politik vorknöpf, kann ich mich ja auf Angenehmes kaprizieren. Aushänge eines Koblenzer Ticket-Ladens wecken nostalgische Bedürfnisse: Mal wieder live mit Grönemeyer abrocken oder mit Elton John. Wo treten die auf? Veltins-Arena, Esprit-Arena, Lanxessarena, Rhein-Energie-Stadion, Allianz-Arena, Commerzbank-Stadion... Kenn ich nicht! Will ich nicht! Der öffentliche Raum an den Meistbietenden als Werbeträger verhökert. Demnächst sind Schlösser, Theater, Krankenhäuser, Naturschutzgebiete dran. Audi-A8-Gymnasium, Siemens-Basilika, Bertelsmann-Friedhof, das wär‘s noch. Mir kommt schon wieder die Galle hoch. Bin ich krank, oder ist das System krank?
                               Andreas Pecht 

(Erstabdruck 4. Woche im Januar 2011)


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