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Geschrieben im  Oktober 2010:
Guten Tag allerseits,
 
29.10.

Gelegentlich fragt man sich bei der Begegnung mit zeitgenössischer Kunst: Bin ich intellektuell und ästhetisch eventuell einfach schon zu verknöchert, um begreifen und genießen oder emotional wenigstens erfassen zu können, was da geboten wird? Bei der jüngsten Produktion des ballettmainz, "In 48", war es die eigens für diesen Tanzabend kreierte Musik des Komponisten-Duos "48nord", die mir nicht nur nichts sagte, sondern den ansonsten recht gelungenen Abend schier verdarb. Da half auch wenig, dass ich eigentlich von Jugend her an harte Rockdröhnung gewöhnt bin, und eigentlich von Berufs wegen nicht allzu empfindlich gegenüber atonalen Geräuschkonstruktionen jenseits gewohnter Harmonik und Melodik. Aber es wollte sich im Kopf (meinem) partout nicht zusammenfügen, was da als feingewobenes, dynamisches, teils zartes Tanzgespinst zu sehen war, und was einem gleichzeitig als überwiegend brachiale elektronische Klangkulisse im Dauerfortissimo auf die Ohren gedroschen wurde. Die Musik nur ein paar Reglerpunkte heruntergedreht, das wäre vielleicht schon die halbe Miete: Die Tanzwirkung würde weniger konterkariert - und  womöglich könnte man dann sogar etwas von der Feinstruktur des elektronischen Klangteppichs erkennen, so es eine gibt.   (Zur Premierenkritik hier)


28.10.

Allgemeine Euphorie über die Entwicklung am Arbeitsmarkt. Ist ja auch erfreulich, dass die Zahl der offiziell gemeldeten und  statistisch als solche anerkannten Arbeitslosen unter drei Millionen fällt und weiter sinkt.  Bei der Bewertung dieser Zahlen sollte man jedoch skeptisch bleiben und einige Faktoren im Hinterkopf mitbedenken:

1. die offizielle Zahl liegt bekanntlich um einiges unter der Zahl der tatsächlich arbeitslosen Arbeitswilligen;

2. dass der Arbeitslosensockel zum Ende eines Krisenzyklus nicht neuerlich höher, sondern niedriger ausfällt als zum Ende des vorherigen, ist ein in fünf Jahrzehnten bislang erstmalig auftretendes Phänomen. Generelle Rückschlüsse auf irgendetwas sind deshalb voreilig. Warten wir mal den nächsten größeren Abschwung ab. Allzu lange wird er nicht auf sich warten lassen, denn Verunsicherung der Lebenumstände vor allem der einfachen Bevölkerung durch ständig wiederkehrende Krisen ist eines der "normalen" Wesenmerkmale der vorherrschenden Wirtschaftsweise;

3. näher zu untersuchen wäre die Qualität der neuen Jobs/Arbeitsplätze/Arbeitsverträge: Handelt es sich um unbefristete Vollzeitstellen oder mehr um Zeit-/Leiharbeitsstellen, Teilzeitjobs und befristete Verträge? (Denn was als "wirtschaftliche Flexibilität" hoch gelobt wird,  bedeutet für den Arbeitnehmer "unsichere Lebensperspektive");

4. näher zu untersuchen wäre auch, wie das Lohnniveau derer sich entwickelt hat, die den Parcour von Arbeit zu Arbeitslosigkeit wieder zu Arbeit durchlaufen haben. Steht am Ende des Weges im Durchschnitt eine spürbare Absenkung des Lohnniveaus?

5. Der jetzt lauthals bejammerte (aber selbstverschuldete) Fachkräftemangel könnte seitens der Arbeitnehmer genutzt werden, in den letzten 20 Jahren verlorengegangene Standards bei Lohn- und rahmentariflichem Sozialniveau, betrieblichen und Arbeitsschutzrechten zurück zu erstreiten. Zugleich aber ist höchste Vorsicht geboten, weil Wirtschaftsverbände und marktliberale Kommentatoren bereits die Trommel für eine gegenteilige Marschrichtung rühren:  Wegen des Fachkräftemangels müssten bald alle länger (und noch schneller) arbeiten, heißt es. Da wird stimmungsmäßig der Boden bereitet für den Versuch, auch die letzten formal noch existierenden Begrenzungen der Arbeitszeit, die letzten Grenzen zwischen Arbeits- und Privatleben zu schleifen. Nach wie vor wirkt mit Macht jene Ideologie, wonach die Interessen der Wirtschaft das Maß aller Dinge sind. 


                                           ***    

27.10.

Leseempfehlung: Mehrere deutsche und europäische Großunternehmen unterstützen in den USA Politiker mit Geldspenden, die sich als Gegner und Bremser von Klimaschutzmaßnahmen hervortun. Darunter auch Mitglieder der Tea-Party-Bewegung. Dies geht aus einem Artikel auf Telepolis hervor. (> weblink)

                                                  ***

Wie das Leben so spielt: Kurz nach dem Druck meines Artikels über die Katholische Hochschulgemeinde (KHG) Koblenz und wenige Stunden nach seiner gestrigen Veröffentlichung auf der website (hier) gab das Bistum Trier eine Pressekonferenz. Dort stellte es seine etwas entschärften und zeitlich gestreckten Sparpläne vor. Danach treten die im Artikel angesprochenen schlimmsten Befürchtungen nicht ein: Die KHGs Saarbrücken, Trier, Koblenz bleiben erhalten. Allerdings kommt es zu einer Neukonzipierung auf Basis eines um knapp 30 Prozent gekürzten Budgets. Auch werden bis 2016 die Stellen der hauptamtlichen Hochschulpfarrer bei den KHGs wegfallen.  
    

26.10.

Ein Streik ist ein Streik ist ein Streik. Und Zweck jedes Streikes ist, die Betriebsabläufe des Gegenspielers zum Stillstand oder sonstwie aus dem gewöhnlichen Tritt zu bringen. Derart soll der Streik Druck aufbauen, um den Gegenspieler zum Einlenken und Nachgeben zu bewegen. Ein Streik, der nichts zum Stillstand bringt oder stört, baut auch keinen Druck auf und wäre deshalb per se ein Unding (bestenfalls noch als symbolische Protestation zu rechtfertigen). Wenn Betriebe ernstlich, also wirkmächtig bestreikt werden, hat das früher oder später unangenehme Folgen auch für deren Kunden. Wird die Bahn bestreikt, wie heute in Deutschland, tritt dieser Effekt sehr schnell ein. Werden, wie in Frankreich, Raffinerien bestreikt, dauert es ein paar Tage bis den Tankstellen der Sprit ausgeht.

Die unverschuldet, aber unvermeidbar (wegen des Druckaufbaus) in Mitleidenschaft gezogenen Kunden können nun auf zweierlei Art reagieren.
A) Sie können für ihr Ungemach die Streikenden und ihre Gewerkschaften beschimpfen. So wird es leider in Deutschland meist gehandhabt.
B) Sie können auf die Gegner der Streikenden schimpfen, weil die mit ihren Maßnahmen, ihrer Politik, ihrer Sturheit erst den Streik heraufbeschworen haben. So halten es unsere französischen Nachbarn zumeist.

Auf die Idee, einen Streik allein deshalb abzulehnen, weil er irgendeinen Betriebsablauf aus dem Takt bringt, käme in Frankreich wohl kaum jemand. Denn ein Streik ist nunmal ein Streik - die Schuld am jetzigen in Frankreich wird  von den Franzosen überwiegend Herrn Sarkozy zugeschrieben. Die aus einer Revolution hervorgegangene Nation weiß eben (noch): Um gegen die Großkopferten etwas in Bewegung zu bringen, bedarf es gelegentlich eines ordentlichen Quantums Unordnung - auch wenn's darüber zeitweise etwas ungemütlich werden kann. Diese Ansicht von historischer Normalität haben sich neuerdings sogar viele Schwaben zueigen gemacht.

                                                  ***

Heute neu eingestellt: Ein Porträt der Katholischen Hochschulgemeinde Koblenz, die kurz vor ihrem 40. Geburtstag fürchten muss, eventuell ein Opfer des Spargeistes im Bistum Trier zu werden (zum Artikel hier)  
 

25.10.

Deutschland schaut mit Verwunderung auf die heftigen Kämpfe in Frankreich gegen eine Anhebung des Renteneintrittsalters. Hierzulande ist es für 67 beschlossen, wird über 70 diskutiert, dort beträgt es 60 und soll auf 62 Jahre angehoben werden. Spinnen die Franzosen?

Man muss zur Beurteilung ein paar Rahmendaten jenseits der puren Jahreszahlen herbeiziehen. Danach kam schon bisher in Frankreich nur in den Genuss der vollen Rente, wer entweder 40 Jahre Rentenbeiträge bezahlt hatte oder mit 65 Jahren in Rente ging. Die jetzige Reform erhöht die für Vollrente notwendige Beitragsdauer schrittwiese auf 41,5 Jahre und das alternative Mindesteintrittsalter auf 67 Jahre. Im Mittel beträgt die französische Vollrente etwa die Hälfte des Durchschnittseinkommens der letzten 25 Jahre. Will sagen: Schon bisher kamen sehr viele Franzosen nur in den Genuss einer Volltrente, wenn sie länger als bis zum 60. Lebensjahr gearbeitet haben. Hinausschiebung des Eintrittsalters und Verlängerung der Beitragsdauer bedeutet dort wie hier wohl vor allem Senkung der Rentenhöhe.

Anders als in Deutschland spielt in Frankreich bei dieser Diskussion die Frage des Produktivitätsfortschritts und der Arbeitsintensivierung ein gehörige Rolle. Zu Recht. Die sind über die Jahrzehnte deutlich gewachsen. Aber wohin ist das daraus resultierende Mehr an Gütern, Produkten, Werten gegangen? Eine gewisse Zeit fanden sich Teile davon wieder in (erstrittenen) Zuwächsen bei Löhnen und Sozialleistungen, eben auch Senkung des Renteneintrittsalters. Das aber ist schon eine Weile nicht mehr so - die Wirtschaft hat sich und wurde vor allem in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten immer weiter aus der Sozialpflichtigkeit entlassen, wg. "Wettbewerbs- und Standortbedingungen".

Die Eröhung der Produktivität wurde weitgehend abgekoppelt von der Wohlfahrt für Beschäftigte und Gemeinwesen. Das ist nicht der einzige, aber ein wesentlicher und leider in der öffentlichen deutschen Debatte deutlich unterrepräsentierter Faktor des "demographischen Problems". Zudem: Wer über Verlängerung der Lebensarbeitszeit nachdenkt, muss vor dem Hintergrund einer immer grenzwertiger werdenden realen Erhöhung der individuellen Arbeitsbelastung über Entschleunigung und Erleichterung der Arbeit selbst nachdenken. Es kann nicht sein, dass sehr viele Arbeitsprozesse ihre Beteiligten schon nach zwei, drei Jahrzehnten ausgebrannt haben, zugleich aber der Renteneintritt weiter und weiter hinausgeschoben wird.

 

23.10.

"Multikulti ist völlig gescheitert", behauptete unlängst die Kanzlerin.  Diese Behauptung aber ist grundlegend falsch, auch wenn in der öffentlichen Diskussion derzeit getan wird, als seien Migrations- und Integrationsprobleme DIE existentielle Frage der Gegenwart schlechthin. Der unverstellte Blick in die Wirklichkeit zeigt ein ganz anderes Bild: Millionenfach kommen Zuwanderer hier seit Jahrzehnten - wenn man sie lässt - ganz gut klar, finden ihren Weg, ihr Auskommen, Ansässigkeit und Heimat oder zumindest Zweitheimat. Schwierigkeiten treten gehäuft dort auf, wo Zuwanderer sich zu großen Kolonien und sozialen Brennpunkten klumpen. Die Schwierigkeiten mögen/können dort heftig werden, wie das in sozialen Brennpunkten immer der Fall war/ist/sein wird. Daraus aber das Prinzip abzuleiten, Multikulti sei völlig gescheitert, ist völliger Unsinn - und rührt entweder von  Wahrnehmungsstörungen oder von blanker Xenophobie oder ist ein machtpolitisches Kalkül, das auf das Schüren xenophober Hysterie baut.

Mit Letzterem versucht jetzt CDU-Kandidatin Klöckner ihre bis dato schlechten Chancen für die Landtagswahl in Rheinland-Pfalz  zu verbessern. Obwohl in diesem flächigen Bundesland die Migraten-Problematik real im Durchschnitt eher nachrangig ist, bläst Klöckner sie im Duktus eine Kulturkampfes zur Primärfrage auf. Ich kenne in Rheinland-Pfalz auch etliche gescheite Leute, die Anhänger der CDU sind, einige sind sogar Mandatsträger. Und allenthalben schütteln diese klammheimlich den Kopf darüber, dass ihre Kandidatin eine zufällig gerade bundesweit auf den Straßen liegendes Thema aufsammelt und zum Leitthema ihres Landtagswahlkampfes macht. Zumal es sich sowieso um ein Thema handelt, das Besonnheit, statt Ressentiment-Anstachelung braucht. Weil: Migration ist der Normalfall in der menschlichen Geschichte, ist es erst recht und unumkehrbar auf der jetzigen globalisierten Zivilisationstufe. Unvermeidlich ist dabei die Beschleunigung des ohnehin zu allen Zeiten laufenden Prozesses kultureller und ethnischer Öffnung, Mischung, Veränderung. Der Islam gehört mittlerweile zu Deutschland wie Pizza, Pasta, Espresso und Döner, wie anglo-amerikanischer Pop, wie schwule Paare,  Patchwork-Familien, eine Vielzahl von Subkulturen oder die neue Protestkultur gegen Basta-Gigantprojekte.

Dazu u.a. auch die diesmalige
Monatskolumne "Quergedanken" (hier)

Übrigens: Vielleicht sagt jemand Frau Klöckner mal, dass im Falle des wiederholten oder dauerhaften Fernbleibens schulpflichtiger Kinder vom Unterricht die Verhängung von Bußgeldern oder polizeiliches Vorführen gesetzlicher Status Quo sind, egal ob es sich um Migrantenkinder oder Ursprungsdeutsche handelt.

          


16.10.

Heute mal ein ganz anderes Thema, keine Gesellschaftspolitik und auch nicht die Künste im näheren Sinn. Stattdessen Besuch bei einem Naturfilmer. Der bei Neuwied lebende Hans-Jürgen Zimmermann hat einen Kindheitstraum wahr werden lassen und zu seinem Beruf gemacht. Ergebnis seiner Arbeit sind ebenso unterhaltsame wie informative, in jedem Fall aber faszinierende Filme/DVDs über die "wilde" Tier- und Pflanzenwelt in der heimischen Region, insbesondere am Mittelrhein und in den angrenzenden Räumen. (Das Porträt hier)

                                           ***

Regelmäßige Leser haben bemerkt, dass es in den letzten Tagen wieder etwas ruhiger geworden ist auf meiner website, dass die Dichte der Einträge in dieser Rubrik und die Zahl neu eingestellter Artikel abgenommen hat. Das wird wohl noch eine kleine Weile so bleiben, denn ich stecke bis über beide Ohren in den Vorbereitungen zu einer rund 50 Zeitungsseiten umfassenden Reihe "Reise durch die Kultur- und Geistesgeschichte der Menschheit". Die Inhalte dafür kommen zwar nicht aus dem eigenen Kopf, nicht von eigenen Recherchen, nicht aus der eigenen Feder. Aber zweieinhalb Dutzend je 80-minütige Vorlesungen von Referenten überwiegend aus dem akademischen Feld zu interessanter Zeitungslektüre fürs breite Publikum einzukochen/umzuformen, das ist schon eine heftige Herausforderung.  Die Reihe wird wohl noch vor Jahreswechsel starten und dann 12 Monate lang laufen. Woche für Woche eine Folge, die Sie dann auch auf www.pecht.info  werden nachlesen können.

12.10.

Nachtrag zur Konzertbesprechung vom 10.10.:

Es wurd an dieser Kritik zu Recht bemängelt, dass im Abschnitt über "Don Quixote" die Leistung des Bratschers Andreas Sokol keine Erwähnung findet. Immerhin ist die Partie der Solobratsche in dem Strauss-Werk nur unwesentlich kleiner als diejenige des Cellos. Der Kritiker ist in der Eile und wegen des allfälligen Platzmangels für den Zeitungsdruck leider dem "Promi-Effekt" erlegen = schreiberisches Augenmerk bloß auf den Star (Maisky). Dabei gab es an Sokols Leistung nicht nur nichts auszusetzen. Vielmehr lieferte der Solobratscher der Rheinischen Philharmonie als "heimisches Gewächs" eine fabelhafte Arbeit ab. Er war Mischa Maisky ein bemerkenswert souveräner, in der musikalischen Charaktersierung Sancho Pansas treffend und anrührend aufspielender Partner.


10.10.

Zwei Wochenendabende hintereinander mit Kultur. Der eine  beglückend, der andere von ätzender Langeweile - obwohl in beiden Fällen hoch angesehene Macher am Werk waren.

Am Freitag, wegen unumgänglicher Inanspruchnahme eines Ausweichquartiers unter erschwerten Voraussetzungen, das 1. Anrechtskonzert des Koblenzer Musik-Instituts. Zwei Solisten von höchsten Graden musizierten mit der Rheinischen Philharmonie unter Daniel Raiskin: Geiger Julian Rachlin und Cellist Mischa Maisky. (Konzertbesprechung hier)

Am Samstag bewies dann die Premiere von Niki Steins Inszenierung des Goethe-Schauspiels "Iphigenie auf Tauris" am Staatstheater Mainz: Ein sehr guter Filmregisseur ist nicht automatisch auch ein guter Theaterregisseur.
(Premierenkritik hier)

 

07.10.

Nicht schlecht: Offenbar wird das Stück "Leben des Galilei" an unseren Schulen noch immer eifrig im Unterricht behandelt. Wenn die Lehrer sich dann auch überwinden können, mit ihren Deutschkursen ins Theater zu gehen, ist das umso erfreulicher. Schon die Premiere des Brecht-Klassikers erlebten vorgestern im Schlosstheater Neuwied zwei Schulgruppen mit. Und laut Theaterleitung haben sich etliche weitere für die Folgevorstellungen angesagt.  Premierenkritik hier


05.10.

Der breite, friedfertige und ausdauernde Massenprotest in Stuttgart zeigt Wirkung: Den politischen und wirtschaftlichen Betreibern von "Stuttgart 21" schwant allmählich, dass sie ihren sturen Bulldozerkurs nicht werden durchhalten können. Mappus und Co. wirken seit dem Wochenende, als hätten sie Kreide gefressen: Versöhnliche Töne werden angeschlagen und Gesprächsangebote zuhauf unterbreitet.  Doch es ist ihnen damit (noch) nicht wirklich ernst. Ihr ganzes Bemühen gilt einfach der Frage: "Was müssen wir wie sagen und welche Zuckerlis bieten wir an, damit dieses dämliche, lästige Pack von Protestierern endlich das Maul hält, daheim bleibt und uns in Ruhe das S21-Ding durchziehen lässt?"  Die heutige Befriedungs-Offerte des BaWü-Umweltministers Gönner spricht diesbezüglich Bände.  Er verkauft einen zeitweiligen "Abrissstopp" für den Südflügel des Bahnhofs mit Inbrunst als "wichtiges Signal" an die Demonstranten. Zugleich aber steht er nicht an, zu bekennen, dass diese Maßnahme im Augenblick für den Fortgang der Bauarbeiten an S21 sowieso belanglos ist. Im Volksmund nennt man das schlicht: Verarsche.

In die gleiche Kerbe hauen Mappus und seine Polizeiführung, wenn sie zwar windelweich bedauern, dass es am vergangenen Donnerstag Verletzte gab, aber zugleich unterstreichen, sie könnten bei sich und aufseiten der Polizei keinerlei Fehlverhalten feststellen. Die Gewalt sei von den Demonstranten ausgegangen, heißt es, und als Beleg werden Fotos herangezogen: Die zeigen was? Jugendliche, die lachend einen Polizeilastwagen mit Absperrgittern "besetzen", mit Kastanien werfende Zeitgenossen, Lichter speiende Feuerwerkskörper und Rangeleien zwischen Demonstranten und Polizisten. Gewalt? Die sieht anders aus. Was die Polizeifotos zeigen, ist allenfalls Ungehorsam und Aufsässigkeit bei den Protestieren.

Aber für selbstherrliche schwäbische Fürsten und für Bahnkönige macht das wohl keinen Unterschied. Sie werden noch ein bisschen brauchen, bis sie vollends begreifen, dass sie demonstrierendes Volk in solchen Massen ernst zu nehmen haben, es weder arrogant abtun noch dreist verarschen noch dümmlich denunzieren können.

Zu Stuttgart 21 eine Analyse unter verkehrspolitischen, gesellschaftspolitischen und auch mittelrheinischen Gesichtspunkten (hier)   

                                                    ***

Weil Sperrfristen gefallen sind, wurden heute gleich sieben neue Artikel aus dem Bereich "Musikwelt" eingestellt. Sie stammen sämtlich aus dem Umfeld des Staatsorchesters Rheinische Philharmonie Koblenz. Ich will sie hier nicht alle eigens verlinken, sondern verweise interessierte Leser auf die Spalte "Neue Artikel" am linken Rand der Startseite. User von auswärts seien allerdings auf das Interview mit Dirigent Daniel Raiskin und Intendant Frank Lefers verwiesen (hier), denn was die beiden sich Gedanken machen über Orchesterarbeit in einer sich wandelnden Gesellschaft, dürfte zum Teil auch von allgemeinem Interesse sein.      

03.10.

Bahnchef Grube spricht den Schwaben das Widerstandsrecht gegen Stuttgart 21 ab. Hallo, geht's noch? Seit Wochen bemühen die S21-Befürworter immer wieder das Argument: Weil durch Wahlen legitimierte Institutionen das Projekt beschlossen hätten, sei außerparlamentarischer Protest dagegen quasi nicht akzeptabel. Was ist das für ein absurdes Demokratieverständnis?! Ein altes, kleinbürgerliches, obrigskeitsstaatliches, das die Mitwirkung des Volkes aufs Kreuzchenmachen in der Wahlkabine reduzieren will. Ein Verständnis, das davon ausgeht, dass der Bürger jede Entscheidung jeder Regierungsmehrheit stillschwiegend zu schlucken hat. So aber ist das nicht gedacht mit dem Demonstrationsrecht, dem Recht auf freie Meinungsäußerung oder dem Recht auf Volksbegehren. Ganz im Gegenteil ist es das Wesen dieser Rechte, dass sie dem Volk die Möglichkeit geben sollen, zwischen den Wahlakten einer Regierung in bestimmten Einzelfragen in die Parade zu fallen.  

01.10.

Eigentlich ist Literatur, die in kindlicher Sprache aus Kinderperspektive erzählt, nicht so sehr meine Sache. Aber in Ortheils neuem Buch "Die Moselreise" kommt das auf so reizende und sinnige Art rüber, dass die gut 200 Seiten doch zur angenehmen und auch anregenden Lektüre werden.
Zur Rezension (hier)
      
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Was wir am Fall Stuttgart 21 im Augenblick erleben, ist ein  Totalversagen CDU-geführter Staatspolitik. Selbst wenn man den Bau des neuen Bahnhofs nebst Trasse für richtig, notwendig und gut hielte, lässt sich die Vorgehensweise der BaWü-Landesregierung im Verbund mit Bahn und Bundesregierung wohl kaum anders bewerten denn als politischer Irrsinn. Wenn ich ein Projekt stämmen will, das bekanntermaßen bei sehr großen Teilen oder gar der Mehrheit der Bevölkerung  auf Misstrauen, Skepsis, Ablehnung stößt, dann kann ich mich doch in drei Gottes Namen nicht dahinter verschanzen, dass die formalen Genehmigungs- und Beschlussverfahren korrekt abgewickelt worden seien.  Dann kann ich mich doch nicht erschöpfen in dem Versuch, die aus der bürgerlichen Mitte kommende Protestbewegung mit Lug und Trug zu diskreditieren (von Altkommunisten gesteuert, gewalttätig, dumpfbacken, unwissend etc.). Dann kann ich erst recht nicht fadenscheinige Gesprächsangebote machen mit dem einzigen Ziel: Möglichst rasch mit Bagger und Kran vollendete Tatsachen zu schaffen. Und dann kann ich schon gar nicht mit brachialer Staatsgewalt die das Projekt verhindern wollenden Bevölkerungsteile von der Straße prügeln.

Es sei denn, es wäre mir völlig wurscht, was Millionen denken, oder ich wollte politischen Selbstmord begehen. Mattus und mit ihm Merkel wollen jetzt mit dem Kopf durch die Wand - und sie fügen der Demokratie mit dieser Dummheit gewaltigen Schaden zu: Weil sie das Vertrauen zahlloser Menschen in die Demokratie tief erschüttern. Massiver (Prügel-)Einsatz der Polizei gegen die eigenen Bürger, die im Vertrauen auf ihre Grundrechte für eine von ihnen für gerecht erachtete Sache auf die Straße gehen, ist das Schlimmste, was Staatspolitik der Demokratie antun kann.

Dazu Vorwände wie Abweichung von angemeldeter Demonstrationsroute oder ein bisschen harmlosen zivilen Ungehormsam an den Haaren herbeizuzerren, ist perfide. Man komme mir nicht mit dem Geschwätz von den gewalttätigen Demonstranten in Stuttgart. Auch gestern wieder erwies sich das Geschrei von Plastersteinwürfen als gezielte Heiz-Propaganda: Ein paar übermütige Jungprotestierer hatten Kastanien auf Polizeihelme regnen lassen. So friedlich wie die Schwaben, hat noch kaum eine große Protestbewegung auf die endlosen  Provokationen der Gegenseite reagiert. Anderswo wäre den Leuten gewiss schon längst der Kragen geplatzt.  Und es verschlägt einem einfach die Sprache, wenn die Landesregierung am Tag nachdem sie die Polizei auf die Demonstranten losgelassen hat, den Opfern die Schuld in die Schuhe schiebt. 

Ekelhaft sind die "Instrumentalisierungs"-Vorwürfe des BaWü-Innenministers Rech gegen Eltern, die ihre Kinder mit zu den Demonstrationen genommen haben: Sie taten das in der  Überzeugung, dass ihnen von der Polizei kein Leid angetan werde. Sie taten es in der Überzeugung, eben gerade keine Chaoten und Gewalttäter zu sein, sondern zurecht demonstrierende Bürger. Mattus und Co. wollen seit Wochen die Kapitulation des Protestes, an etwas anderem hatten sie nie Interesse. Da die Kapitulation nicht erfolgte, muss sie mit Polizeigewalt herbeigezwungen werden - dazu brauchte Kappus die Schlacht im Schlossgarten, dazu braucht er jetzt erst recht die Kriminalisierung der Protestierer. Und wie geht das mit der Kriminalisierung? Alte Methode: Erkläre jeden, der dir und den Anweisungen deiner Polizei nicht aufs Wort gehorcht, der sich auf die Straße setzt, der sich mit Regenschirmen gegen Wasserwerfer oder abwehrenden Armbewegungen gegen Knüppelschläge schützen will, zum Gewalttäter. Das ist Politik in ihrer widerwärtigsten Ausprägung. 

Alternative? Schluss mit allen Tricksereien. Wenn S21 so gut und so wichtig ist, wie die Befürworter tun, dann sollten sie die Leute davon auch überzeugen können. Wenn sie es nicht können, ist das Projekt nicht gut genug. Um des inneren Friedens muss man für diese Diskussion eben ein paar Monate, vielleicht das eine oder andere  Jahr Verspätung in Kauf nehmen. Und es wird keine vernünftige Diskussion geben, wenn sie nicht ergebnisoffen geführt wird. D.h. für die Regierenden und die Bahn auch: Sie müssen die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass das Projekt am Ende vielleicht gar nicht realisiert werden kann. Gegen die Mehrheit der Bevölkerung geht es nunmal nicht - sowieso nicht  mit einem Projekt, dessen letztendlicher Nutzwert so fragwürdig ist wie die meisten seiner Bauplanungen chaotisch bis weltfremd sind. In der Sache resümiert: S21ersetzt eine funtkionierende Infrastruktur durch eine gigantische Neuerung, von der bislang (auch und erst recht nach den jüngsten Enthüllungen des "Stern" in dieser Woche) nur zwei Dinge wirklich feststehen:

Erstens: Das Projekt wird um ein Vielfaches teurer als geplant.
Zweitens: Kaum eine der damit verbundenen Versprechungen auf urbanen und wirtschaftlichen Nutzen für die Stadt sowie Nutzen für das deutsche Bahnwesen wird sich je erfüllen.

      
27.9.

Neuer Ballettchef am Stadttheater Koblenz wird ab Spielzeit 2011/2012 Steffen Fuchs. Der 1974 in Halle an der Saale geborene Fuchs tritt die Nachfolge des dann 66-jährigen  Anthony Taylor an, der seit fast drei Jahrzehnten die Tanzsparte in Koblenz leitet. Heute stellte Intendant Markus Dietze den Neuen der Presse vor.
Einige Eckdaten zu Fuchs und zum Wechsel hier.

                                     
***

Inzwischen haben sich die ganz argen Staubwolken, die Thilo Sarrazin aufwirbelte, etwas geleg. Damit ist es an der Zeit, die neuartigen Erkenntnisse dieses Herrn zur menschlichen Genetik auf die eigene, also meine, natürliche Veranlagung anzuwenden. Damit befasst sich die Monatskolumne Quergedanken (hier).

                                     
***

Wenn das Feuilleton über Theater spricht, geht es meist um die institutionalisierten Bühnen in Öffentlicher Hand. Im publizistischen Schatten leisten indes andere Theaterschaffende eine immens wichtige Arbeit: die freien Theater. In Rheinland-Pfalz sind zwei Dutzend freier professioneller Bühnen im Landesverband la profth zusammengeschlossen, der zugleich die vom Land als vorerst befristetes Förderprojekt eingerichtete "Aufführungsförderung" für alle freien Profitheater abwickelt. Ein Blick auf diese Szene hier  



 
Wünsche Erhellung und Anregung bei der Lektüre
nebenstehender neuer Texte (s. linke Spalte)
Andreas Pecht

2010-09-30 "Guten Tag allerseits"
im Monat September 2010


2010-08-31 "Guten Tag allerseits" in den Monaten Juli und August 2010

 

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