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2010-11-08 Analyse/Kommentar:

Zur Diskussion um neue Bürgerproteste und verstärkte Bürgerbeteiligung an politischen Entscheidungen 

 

Nur keine Angst vor dem Volk!

 
ape. Eigentlich müsste die politische Klasse Deutschlands hocherfreut sein. Ein derartiges Interesse an politischen Angelegenheiten wie jetzt, verbunden mit persönlichem Engagement, hat es in der Bevölkerung lange nicht gegeben. Zuletzt in den östlichen Bundesländern 1989.  Seither aber ging die Klage von der Politikverdrossenheit um: den Volksparteien laufen die Mitglieder davon; die Beteiligung an Wahlen sinkt ins Bodenlose; Politiker finden sich auf der Leiter des Ansehens von Mal zu Mal weiter abgestuft.
 

Doch warnen Wissenschaftler schon eine Weile: Der Begriff  Politikverdrossenheit erfasse die wahren Vorgänge in der Gesellschaft nicht. Der zunehmende Anteil von Nichtwählern sei, wie der Mitgliederschwund bei den Parteien auch, als Ausdruck politischen Desinteresses falsch interpretiert. Richtiger müsse man von Parteienverdrossenheit sprechen und von Entfremdung zwischen etabliertem Polit-Apparat und Volk. 

Tatsächlich sind in den letzten Jahren Unterschiede im Politikverständnis gewachsen. Die Akteure „oben“ verstehen unter Politik primär das Handeln in der parteilichen, parlamentarischen und ministeriellen Maschinerie (sowie ihre medial omnipräsente Werbung für ihr Treiben dort). Auf die Zuseher „unten“ wirkt diese Art Politik wie ein undurchsichtiger Komplex, in dem sich tatsächliche oder vermeintliche Staatsräson und Sachzwänge auf seltsame Weise vermischen mit Parteiinteressen, Lobbyeinfluss, Karrierestreben.

Diese Mechanismen haben mit Volksnähe wenig zu tun. Und selbst die in manchen Verfahren vorgesehene „Bürgerbeteiligung“ mutet wie bürokratisches Spießrutenlaufen an; eher dazu gedacht, den Bürger zu ermüden, als ihn an Entscheidungen zu beteiligen. Wer sich mal die Mühe machte,  einen simplen kommunalen Bebauungsplan zu begreifen, kritisch zu durchleuchten und Einsprüche durchzufechten, weiß: Bürgerbeteiligung stellt man sich anders vor.

Es gibt in Deutschland  ein fatales Missverständnis von Demokratie, in dem sich Teile der politischen Klasse eingerichtet haben. Danach funktioniert Demokratie so: „Ihr wählt uns, wir machen dann; basta.“ Wem das an Mitwirkung zu wenig ist, der möge halt einer Partei beitreten. Bürgerbewegungen durchbrechen diese Logik, wie sich an den Protesten gegen Stuttgart 21, gegen den Atombeschluss der Bundesregierung oder auch am konservativen Volksentscheid gegen die Hamburger Schulreform zeigt.

Bewegungen entzünden sich oft quer zum Parteienspektrum an Einzelfragen. Unter den S21-Gegnern gibt es CDU- und SPD-Anhänger. Sie protestieren gegen S21, sind zornig über die Haltung ihrer Parteien dazu, haben aber wenig gegen deren Politik auf sonstigen Feldern. Auch unter CDU- und FDP- Anhängern gibt es AKW-Gegner. Sollen die jetzt Grün wählen, obwohl sie bei sehr vielen anderen Themen mit den Grünen überkreuz liegen, oder müssen sie in Sachen AKW aus Parteiräson den Mund halten?  Wohl kaum. Daraus folgt: Mit der Stimmabgabe für eine Partei haben sich einzelne Sachfragen nicht erledigt. Ergo kann die demokratische Teilhabe des Volkes sich auch in Wahlen nicht erschöpfen.

Dieser Befund wird umso drängender, je größer die Entfremdung zwischen Politikapparat und Bevölkerung – und je ausgeprägter die Bereitschaft „unten“, sich in einzelnen Fragen von den Parteien unabhängige Meinungen zu bilden und dafür zu streiten. Dass diese Tendenz hin zur vermeintlichen „Protestrepublik“ so stark geworden ist, hat auch mit dem viel beschworenen Gedrängel der Volksparteien „in der Mitte“ und an der Seite des Marktliberalismus zu tun.

Hinzu kommt aber ein Faktor, der die jetzigen Einmischungen der Bevölkerung in politische Einzelentscheidungen zu einem nachhaltig bedeutsamen Phänomen für die Demokratie-Entwicklung in Deutschland macht: Protest gegen Entscheidungen von Parlamenten und Regierungen ist nicht länger ein Privileg der Jugend oder randständiger Szenen; er kommt vielmehr aus der Mitte des Gesellschaft, umfasst mehrere Generationen sowie diverse Sozial- und Bildungsschichten.

Zwar setzen sich die Bewegungen jeweils unterschiedlich zusammen. Die Protestierer gegen Stuttgart 21 und die Anti-AKW-Demonstranten sind nicht automatisch alle gleichen Sinnes.  Gemeinsam aber ist ihnen das Selbstverständnis: Wir haben euch vielleicht gewählt, aber das heißt nicht, dass ihr nun in jedem Einzelfall tun könnt, was ihr wollt. So wird dieser Tage das Demonstrieren praktisch und im allgemeinen Bewusstsein das, wozu es in der Verfassung von Anfang an vorgesehen war: eine selbstverständliche Möglichkeit für jeden, politisch Einfluss zu nehmen – auch und gerade zwischen Wahlen.

Man darf in dieser Entwicklung einen demokratischen Reifeprozess sehen. Zumal sich viele Proteste kaum in dumpfem Dagegensein erschöpfen. Neue Möglichkeiten politischer Teilhabe für die Bürger zu öffnen, ist deshalb ein naheliegender Gedanke. In Rheinland-Pfalz haben jetzt unabhängig voneinander Herbert Mertin (FDP) und Kurt Beck (SPD) stärkere Elemente der Bürgerbeteiligung ins Gespräch gebracht. In Stuttgart ist davon schon länger die Rede.

Solche Vorstöße sind begrüßenswert. Doch bleibt als Nagelprobe auf ihre Ernsthaftigkeit die Frage: Was geschieht, wenn nach verständlicher Projekterläuterung und ausführlicher Erörterung die Bürger dennoch entscheiden „Wir wollen das Projekt so nicht“? An Alibi-Veranstaltungen, die nur den Bürgerprotest einlullen sollen, besteht kein Bedarf. Die Politik muss sich schon durchringen, den Souverän ernster zu nehmen. Das Land kommt davon nicht zum Stillstand. Der Disput mag lebhafter werden und „Durchregieren“ schwieriger. Ansonsten aber könnte ein Volksentscheid zur rechten Zeit auch Politiker motivieren, über Alternativen zu den ausgetretenen Beton-Pfaden nachzudenken.
                                                                                        Andreas Pecht


(Erstabdruck 45. Woche im November 2010)

Siehe zu diesem Thema auch:

2010-11-04 Analyse/Kommentar:
 Warnungen vor der "Protestrepublik" nehmen fast hysterische Züge an


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Politik, neue Protestbewegung, Plebiszite, Stuttgart 21, Anti-AKW-Bewegung, demokratischer Reifeprozess
 
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