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2010-08-06b Musikwelt/Porträt:

Der Bachchor Mainz und die wiederentdeckten Kantaten des Wilhelm Friedemann Bach


Perlen der hohen Chorkunst


ape. Niemand kennt die Anzahl der Chöre in Deutschland genau. Allein der rheinland-pfälzische Chorverband zählt 1578 Mitgliedschöre. Aber es gibt einige mehr. Ob hier, anderweitig oder gar nicht organisiert: Chorsingen hat in der Fläche des Landes eine breite Basis. Und es hat eine feine Spitze. Zu dieser gehört seit 1955 auch der Bachchor Mainz.

Frühsommer 2010. Zwei Konzertabende in der Seminarkirche des bischöflichen Priesterseminars Mainz. Sonderkonzerte. Das erste eines, wie es auch der mit Rundfunkmitschnitten und CD-Aufnahmen vertraute Bachchor nicht oft erlebt: Ein halbes Dutzend Fernsehkameras hat in der Rokoko-Kirche den Mainzer Chor nebst Solisten und das Münchner Barockorchester L'arpa festante im Visier. ZDF und Kultursender arte nehmen auf, was am 19. Dezember ausgestrahlt wird –  und was in der Musikwelt als bemerkenswertes Ereignis gilt: die Aufführung lange verschollener, vor wenigen Jahren wiederentdeckter Kantaten von Wilhelm Friedemann Bach. Der Geburtstag des ältesten Sohnes von Johann Sebastian Bach jährt sich 2010 zum 300. Mal.

Wie war der erster Eindruck beim Blick in die Notenhandschriften? Die Frage geht im Gespräch nach dem Konzert an Ralf Otto, seit 1986 Dirigent des Bachchores: „Skurril im besten Sinne. Abrupte Stilwechsel, merkwürdige Instrumentierungen, extreme Anforderungen an die Spieltechnik der Instrumentalisten und die sängerischen Fähigkeiten der Solisten wie des Chores.“ Später beantwortet Otto die Frage nach der künftigen Stellung von Friedemann Bachs Kantaten im Chorrepertoire so: „Es sind wichtige, bedeutende Werke. Aber man wird sie nicht landauf, landab von den Chorgemeinschaften zu hören bekommen, dazu sind sie technisch einfach zu schwierig. Schon was die Instrumentalpartien angeht: Es gibt in Deutschland nicht allzu viele Ensembles für Alte Musik vom Range L'arpa festante, die das hinkriegen.“

Konzert, TV-Ausstrahlung und CD

Umso erfreulicher, dass es nicht bei den Mainzer Konzerten und der TV-Ausstrahlung bleibt. Die vier dafür ausgewählten Friedemann-Kantaten – von insgesamt 20 wiederentdeckten – erscheinen im November auch als Ersteinspielungen auf CD/DVD. Einstudierung unbekannter Werke höchster Schwierigkeit, Live-Konzert mit Fernsehaufzeichnung und zwischendurch noch CD-Aufnahmen: Die wiederentdeckten Schätze in die Musikwelt einführen zu dürfen, das war für den Bachchor Ehre, künstlerische Herausforderung, aber auch enormer Kraftakt. Ein lohnender, wie die positiven Reaktionen von Publikum und Kritik auf die Konzerte unterstreichen.

„Bei Friedemann Bach sind alle Brüche offen, da ist nichts geglättet“ erläutert Otto, der seit 2006 als Professor an der Mainzer Hochschule für Musik Chordirigieren lehrt, zuvor 16 Jahre in gleicher Funktion an der Folkwang Hochschule Essen tätig war. Friedemanns Ausdrucksspektrum reiche „von schulmäßiger Kontrapunktik, die er beim Vater gelernt hat, bis zu fast Beethoven'schem Pathos. Die Farbigkeit, Sinnlichkeit, szenische Kraft in dieser Musik ist faszinierend. Friedemann ist aufgeklärter, moderner, direkter zu Herzen gehend“.

27 Choristen kamen für die wiederentdeckten Kantaten zum Einsatz. Insgesamt aber zählt der Mainzer Bachchor um 100 Aktive. Aus diesem Fundus wird für jedes der rund 20 Chorprojekte pro Saison eine passende Besetzung zusammengestellt. Nicht alle Sänger können alles gleich gut. Auch der Bachchor besteht im Grunde aus Amateuren, erklärt Otto. „Da ist der sängerische Input unterschiedlich. Es gibt bei uns Choristen, für die ist Singen ihr Leben. Die nehmen privat Gesangsunterricht, ohne den Gesang allerdings beruflich zu betreiben. Für andere ist der Chor viel mehr Hobby, wenn auch ein anspruchsvolles.“

Ralf Otto fordert seine Sänger

„Anspruchsvoll“ ist ein wichtiges Stichwort für das Selbstverständnis des Bachchores, den Ministerpräsident Kurt Beck einen „der herausragenden rheinland-pfälzischen Chöre“ nennt. Jeder Sangesfreund, der Noten lesen kann und Chorerfahrung hat, ist herzlich zum Probesingen eingeladen. Doch nicht alle werden nachher aufgenommen. Um jene hohe Professionalität und  Stimmkultur mithalten zu können, die dem Chor auch von fachkundigen Beobachtern immer wieder attestiert wird, braucht es schon eine ordentliche Portion Können. Ralf Otto fordert seine Sänger gehörig, wenn er in historisch orientierter Aufführungspraxis die dramatische Wirkung der Werke voll zur Entfaltung bringen, zugleich aber die kompositorischen Strukturen durchhörbar machen will.

Und schließlich erhellt ein Blick ins Repertoire des Chores: Was da verlangt wird, singt man nicht einfach so nebenher. Die ersten 30 Jahre nach Gründung 1955 war der Bachchor ganz auf das Oeuvre seines Namenspatrons Johann Sebastian Bach konzentriert und erwarb sich unter Ottos Vorgänger Diethard Hellmann große Verdienste um die Bach-Pflege. Als Ralf Otto 1986 den Chor übernahm, sah er es als wichtige Aufgabe, dessen Wirken an einen sich inzwischen rasant verändernden Chormarkt anzupassen. Das bedeutete vor allem Öffnung des Repertoires für die nachbarocken Epochen bis hin zur zeitgenössischen Musikavantgarde. Erfahrung damit brachte er vom vielfach ausgezeichneten Vokalensemble Frankfurt mit, das er 1980 gegründet hatte.

So gilt der Mainzer Bachchor heute nicht nur als Klangkörper von Rang für das Bach-Werk, sondern für die hohe Chorkunst vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart – oft gebucht auch für Gastspiele in Deutschland und im Ausland bis hin nach Buenos Aires, gern gesehen als Partner namhafter Orchester wie dem Opernhausorchester Zürich, dem Museumsorchester Frankfurt oder der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz.

Der Jugend und den Kollegen verbunden

Mit solcher Intensität der Musik verpflichtet zu sein, bedeutet für den Bachchor zugleich: Den Menschen verbunden sein, insbesondere Kindern und Jugendlichen. Enthusiastisch verweist der Dirigent auf Schülerprojekte, die der Chor unter dem Motto „Mittendrin statt nur dabei“ anbietet. Da werden Schüler diverser Klassenstufen intensiv in den gesamten  Probenprozess für eine Aufführung eingebunden, sei es als Hospitanten oder gar als aktive Chormitglieder „auf Zeit“. Den das Leben bereichernden Wert des Singens erfahrbar machen, Hemmschwellen abbauen, Begeisterung für Chorgesang und klassische Musik wecken: „Diese Begegnungen sind für alle Beteiligten – ob Schüler, Sänger oder Dirigent – fantastisch“, ist Ralf Otto überzeugt.

Neben dem Bachchor gibt es in Mainz eine zweite Chorgemeinschaft, die zur rheinland-pfälzischen Spitzengruppe gehört: der Domchor unter Leitung von Mathias Breitschaft. Wie sind die Beziehungen zwischen den beiden Chören, zwischen deren Chorleitern, wollen wir zum Abschluss des Gespräches wissen. „Gut, sehr gut,“ erklärt Otto. Von Eifersüchtelei keine Spur, man arbeite bei großen Projekten immer mal wieder zusammen. „Breitschaft, der ja bald aufhört, hat den Wunsch, dass wir nochmal etwas gemeinsam machen. Und mein Wunsch ist, dass er dafür dann den Bachchor bekommt.“ So sollte es überall sein – im Dienste der musikalischen Kunst.                               Andreas Pecht

Infos/Kontakt:
Geschäftsstelle Bachchor Mainz, Kaiserstr. 56, 55116 Mainz
Telefon: 06131/63 26 55
Internet: www.bachchormainz.de


(Erstabdruck August 2010)

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Musik, Chorgesang, Wilhelm Friedemann Bach, Kantaten, Bachchor Mainz, Porträt

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