Kritiken Theater
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2010-05-26 Schauspielkritik:

"Onkel Wanja" in der Berliner Inszenierung von Jürgen Gosch bei den Wiesbadener Maifestspielen


Mit all dem Unglück eingesperrt
in einem Kasten


 
ape. Wiesbaden.  Vorher drehen sich im Foyer des Hessischen Staatstheaters die Gespräche um den Rücktritt des Roland Koch. Nachher hat man Interessanteres zu bereden: Anton Tschechows   „Onkel Wanja“ in einer der letzten großen Regiearbeiten des 2009 verstorbenen Jürgen Gosch. Die Inszenierung wurde als Beitrag des Deutschen Theaters Berlin bei den Maifestspielen Wiesbaden gezeigt, und dort trotz ihrer befremdlichen Art mit großem Beifall aufgenommen.

 

Auf der Wiesbadener Bühne steht ein lehmgetünchter Guckkasten aus Berlin. Die Frontseite offen, ansonsten hermetisch verschlossen (Ausstattung: Johannes Schütz). Was bedeuten soll: Wer drin ist, kommt nicht mehr raus. Drinnen stecken neun Schauspieler fest. Bei Tschechow sind diese Leute auf einem russischen Landgut versammelt und offenbaren dort ihr unterschiedliches Lebensunglück. Bei Gosch ist es genauso, nur dass der Raum hier nicht mal theoretisch die Möglichkeit lässt, dass jemand sein Glück anderswo sucht als bei sich selbst.

Menschen völlig zurückgeworfen auf ihre Ichs und deren Miteinander. Schauspieler fast völlig beraubt ihrer sonstigen Hilfsmittel: Ein Samowar, einige Tee- und Schnapsgläser, eine Gitarre – nichts weiter. Tragen muss den Abend die nackte Schauspielkunst allein, dreieinhalb Stunden lang. Sie trägt, und wie sie trägt. Wir sehen Menschen ihr Leben bestreiten und sie bestreiten, dass es ein Leben ist. Dazwischen liegt Sehnsucht.

Onkel Wanja sehnt sich nach dem Ausbruch aus der Tretmühle. Seine Nichte Sonja ersehnt die Liebe des Arztes Astrow, dieser die Veränderung der Welt in Richtung ökologischer Vernunft. Beide Männer sehnen die Vereinigung mit dem Fleisch der schönen Elena herbei, der jungen zweiten Frau des von Wanjas und Sonjas Arbeit schmarotzenden Altprofessors. Elenas Sehnen gilt Lust und Kurzweil, ohne dass sie wüsste, woraus die bestehen könnten. Der garstig-egozentrische  Professor ersehnt Macht über die Seinen, Anerkennung, Pfründe und Jugend.

Keiner kriegt, wonach er sich sehnt. Das Leben verrinnt zwischen Trott, Stillstand, Streit,  Momenten aussichtsloser Hoffnung oder Augenblicken wodkaseliger Glücksillusion. Gefangen im selbst eingerichteten System der Ausweglosigkeit: Das ist auf absurde Weise so unendlich traurig,  dass es schon wieder komisch anmutet. Weshalb die Inszenierung zwischen Lachen und Weinen balanciert. Weshalb auch die Mimen ihre Figuren als Grenzgänger zwischen Tragödie und  Komödie formen.

Schnoddriger Zynismus bei Jens Harzer (Astrow). Latente ziellose Lüsternheit bei Constanze Becker (Elena). Trotzige Tapferkeit am Rande des Zusammenbruchs bei Meike Droste (Sonja). Hypochondrisch-tyrannisches Chargenspiel im Spiel bei Christian Grashof (Professor). Und der Wanja von Ulrich Matthes ein erbarmungswürdiger Looser sogar noch im Aufruhr. Gequälte Geister und Quälgeister zugleich – erspielt mit einer scheinbar untheatralischen Natürlichkeit, die selbst konventionelle Momente wie spontane Interpretationen von Lebenswahrheit wirken lässt. Große, packende und berührende Schauspielkunst. Andreas Pecht


(Erstabdruck 21. Woche im Mai 2010)


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