Kritiken Theater
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2010-05-24 Ballettkritik:

Gastspiel "Beijing Dance/LDTX" 
in Wiesbaden mit der Produktion "Unspeakable" von Sang Jijia

Moderner Mensch zwischen
Getriebensein und Versteinerung


 
ape. Wiesbaden. 

Vor einigen Tagen hatte bei den Wiesbadener Maifestspielen bereits das Gastspiel der Compagnie des Theaters São Paulo (Brasilien) den Eindruck hinterlassen: Das zeitgenössische Ballett entwickelt über Kontinente hinweg eine globale Ästhetik. Das unterstrich am Pfingstwochenende ein Auftritt des Ensembles „BeijingDance/LDTX“ aus der Volksrepublik China.

   

Die 2005 in Peking gegründete Truppe war dem Vernehmen nach die erste nicht-staatliche Profi-Tanzcompagnie des Landes. Sie zeigte jetzt am Hessischen Staatstheater als europäische Erstaufführung die Produktion „Unspeakable“ von Sang Jijia. Der Chinese ist in der Tanzszene des Rhein-Main-Raumes kein Unbekannter: Vier Jahre lang gehörte er dem ballettfrankfurt von William Forsythe an. Die dort genossene Schule ist dem jetzigen Stück anzusehen.


Eine abstrakte Liegefläche im Hintergrund, eine schmucklose Projektionsfläche an der Seite. Dazwischen 13 Tänzer/innen in quasi Alltagskluft junger Leute heute und auf Socken. Wild rennen sie durcheinander, entfesseln in Höchsttempo eine verwirbelte Szenerie, die sich aus fortwährend veränderten Kleinformationen, quirligen Paar- und Einzelaktionen ständig neu zusammensetzt. Das strahlt gewaltige Hektik aus: gehetzt, getrieben sind diese Menschen, kommen zu vermeintlicher Ruhe erst, wenn sie vorübergehend zu toten Puppen erstarren.


Ein Tanzen ohne erkennbare Geometrie, ohne Anfang und Ziel. Ein Abbild des Heute: Bloß in Bewegung bleiben, wozu auch immer – oder völlig erstarren, tot sein. Wie improvisiert wirkt das bisweilen, und ist doch ein sehr genau gearbeitetes, auf hohem Niveau getanztes Durcheinander. Dies setzt sich fort bis in die Bewegungssprache, die sichtlich von Forsythes Aufbrechung der klassischen Grazie zugunsten geknickter, zuckender, versehrter Glieder inspiriert ist. Allerdings verzichten die Chinesen nicht völlig auf neoklassische Eleganz. Beides zusammen verschmilzt bei ihnen zu einem Forsythe-Ballett, aber mit viel weicherem Bewegungsfluss.


Zwischen Hektik und Erstarrung finden sich überall winzige Momente, in denen zwei oder drei Tänzer plötzlich fast zärtlich zueinander kommen – um sofort von anderen wieder auseinandergerissen und in den Mahlstrom moderner Hatz zurückgetrieben zu werden. Hoffen, Sehnen, Bangen, Verzweifeln: Was Menschen in solcher Welt empfinden ist „unspeakable“, unaussprechlich. Weil die Worte fehlen, sucht das Ballett nach Möglichkeiten des Ausdrucks.


Schlussbild: Zu fast romantischen Musikminimalismen von Thom Willems gelangen eine Frau und ein Mann zueinander. Ein paar Sekunden scheint es, als könne deren innige Verbundenheit das allgemeine Getriebensein anhalten. Doch die Utopie trägt nicht: Die übrigen Tänzer schütten sich aus vor Lachen, amüsieren sich zu Tode. Da alle erstarren, hält es auch die beiden Liebenden nicht mehr beieinander. Soll heißen? Das fühle ein jeder selbst. Es schmerzt.                                                             Andreas Pecht


(Erstabdruck 26. Mai 2010)



P.S.: Das Kürzel LDTX im Namen der Compagnie steht für Lei Dong Tian Xia, was wörtlich übersetzt heißt: Donner poltert unterm Himmel. Ein etwas eigentümliches Motto für eine Balletttruppe. Mag aber auch sein, dass dem Westmenschen da ein dem chinesischen Kulturkreis eigener sprichwörtlicher/poetischer Hintersinn verborgen bleibt.  Sollte jemand in der Leserschaft mehr wissen, bitte ich um kurze Aufklärung.



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