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2010-05-17 Analyse:

Länger gemeinsam lernen

 

„Wir lassen keinen zurück“ wäre die bessere Maxime für unser Schulsystem

 
ape. Pädagogik-Tagungen in Thüringen und Hamburg, dazu 1000 Grundschulrektoren in NRW unterstrichen soeben erneut die alte Forderung von Erziehungswissenschaftlern: Lasst unsere Kinder über das vierte Schuljahr hinaus gemeinsam lernen! Doch Deutschland tut sich schwer damit – obwohl die Sortierung nach der Grundschule weltweit nur Kopfschütteln hervorruft.


Mit der sehr früh einsetzenden Zergliederung seines Schulsystems ist Deutschland ein Exot in der Staatengemeinschaft. Nur noch hier und in Österreich wird die Mehrheit der Schüler bereits nach dem vierten Schuljahr auf unterschiedliche weiterführende Schultypen verteilt. Überall sonst setzt die Verzweigung der Schullaufbahn erheblich später ein. Beispiele aus Europa: In Großbritannien und die Schweiz ab der 7., in den  Niederlanden ab der 8., in Frankreich ab der 9., in Finnland gar erst ab der 10. Klasse. Bis dahin besuchen im Regelfall alle Schüler gemeinsam eine Art einheitlicher Volksschule.

Bringt die Besonderheit des deutschen Schulsystems Deutschland irgendeinen Vorteil? Sind Wissen und Fertigkeiten hiesiger Schüler deshalb etwa besser als diejenigen ihrer Altersgenossen im Ausland? Keineswegs. Im Gegenteil fallen die Ergebnisse deutscher Schüler bei internationalen Vergleichstests – beispielsweise den „Pisa“-Studien der OECD – meist nur durchschnittlich oder unterdurchschnittlich aus. Zugleich allerdings stellen Untersuchungen immer wieder fest: Die frühe Verzweigung der Schullaufbahn hierzulande wirkt wie eine Selektion nach sozialer Herkunft.

Warum gibt es dann in Deutschland noch immer nicht die gemeinsame Regelschule wenigstens bis zum 7. oder 8. Schuljahr? Zumal das deutlich bessere Abschneiden unserer Grundschulen bei internationalen Vergleichsstudien (IGLU) belegt, dass gemeinsames Lernen von Kindern unterschiedlicher sozialer Herkunft jedenfalls keinem schadet. Interessanterweise wird die öffentliche Auseinandersetzung um Reformen im Schulwesen stets dann richtig explosiv, wenn es um den Bestand des Gymnasiums geht. Jüngstes Beispiel dafür ist Hamburg.

Schulkampf in Hamburg

Dort stieß der Beschluss der vorherigen CDU-Stadtregierung zur Einführung eines zweigliedrigen Schulsystem mit Stadtteilschulen nach Gesamtschul-Art und Gymnasien auf vergleichsweise wenig Widerstand. Einen regelrechten Schulkampf hat danach jedoch ein Plan der schwarz-grünen Folgeregierung ausgelöst, der die Einführung sechsjähriger gemeinsamer Primarschulen für alle Schüler vorsieht. Das wurde von Teilen des hanseatischen Bürgertums als Angriff auf das Bildungsniveau und die Institution Gymnasium verstanden. Derzeit kämpft in Hamburg die Bürgerinitiativen „Chancen für alle“ für die Reform, die Vereinigung „Wir wollen lernen“ dagegen. Letztere hat per Unterschriftensammlung einen Volksentscheid zur Schulreform für diesen Sommer erzwungen.

Woher dieser Furor, der auf den meisten Flicken des schulpolitischen Föderalismusteppichs in Deutschland das längere gemeinsame Lernen verhindert? Lassen wir einmal beiseite, dass das Gymnasium über Generationen eine Schule für Bessergestellte war und deshalb die Angst vor Privilegienverlust gewiss keine kleine Rolle spielt im Systemstreit. In Deutschland ist offenbar die Ansicht weit verbreitet, dass Fähigkeiten vermeintlich klügerer Schüler sich optimal erst entfalten können, wenn sie möglichst früh unter sich sind – und möglichst weit weg von den diversen Problemen in den Klassen und auf den Pausenhöfen der „unteren“ Schultypen.

Zu dumm, zu faul, zu untalentiert

Ist an dieser Ansicht was dran? Wenig. Jedenfalls nicht genug, um alljährlich über unzählige Kinder im zarten Alter von zehn Jahren das Urteil zu fällen: Ihr seid zu dumm, zu faul, zu untalentiert für höhere Schulbildung. Eine der wertvollsten pädagogischen Erkenntnisse der vergangenen 200 Jahre lautet: Es gibt keine Kinder, an denen von vornherein „Hopfen und Malz verloren“ wäre. Was es gibt, sind schwierige Umfelder, negative Einflüsse, Mangel an Zuwendung. Was es auch gibt, sind individuell unterschiedliche Anlagen und Talente, die der individiuellen Förderung bedürfen.

Deutschland und Österreich haben daraus den schulsystemischen Schluss gezogen: Wir stecken so früh als möglich diese ins Kröpfchen, jene ins Töpfchen. Andere Länder folgen einer ganz anderen Logik: Schule muss schwierige soziale und familiäre Umfelder aufgreifen und ausgleichen; Sie muss den Segen, der in den Potenzialen unterschiedlicher Talente steckt, durch individuelle Förderung innerhalb vielfach durchmischter Lerngruppen zur Entfaltung bringen. Wie antwortete ein finnischer Lehrer vor Jahren auf die Frage, was der Grund für das erfolgreiche Pisa-Abschneiden seines Landes sei: „Es gibt viele Gründe, aber einen entscheidenden Grundsatz: Wir lassen keinen zurück.“

Von gemischten Lerngruppen profitieren alle

Solch eine Maxime schließt natürlich Schulpraktiken aus, die nach dem alten Witz funktionieren: Wenn alles schläft und einer spricht, den Zustand nennt man Unterricht. Derartige Zustände sind glücklicherweise auch hierzulande nicht mehr die Regel. Differenzierte Gruppenarbeit hat (hoffentlich!) überall Einzug gehalten. Und es ist weithin unstrittig, dass schwächere Schüler von der Arbeit in kleinen durchmischten Lerngruppen enorm profitieren. „Mag sein“, könnten Eltern stärkerer Schüler einwenden, „aber was haben unsere Kinder davon? Ihr schnelleres Fortkommen wird doch nur behindert, wenn sie ihr Lerntempo den Schwachen anpassen müssen.“

Dieser Einwand wird sehr häufig gegen längeres gemeinsames Lernen vorgebracht. Doch wird er dadurch nicht richtiger. Man muss kein Pädagoge sein, um wissen zu können: Gelerntes reift erst richtig aus, wenn es benutzt und von mehreren Seiten her durchdacht wird. Etwa wenn ich es Mitschülern erkläre oder in eine Team-Arbeit einbringe. Wobei das Zusammenwirken in durchmischten Lerngruppen nicht allein fachlichen Kenntnissen und Fertigkeiten zugute kommt. Vielmehr werden auch Fähigkeiten gestärkt, die unter den etwas trockenen Begriff „soziale Kompetenz“ fallen, aber den Kern des Zusammenlebens in einer realen Gesellschaft ganz unterschiedlicher Menschen meinen: die Fähigkeit zu Solidarität, Toleranz, friedlichem und gedeihlichem Miteinander, Respekt voreinander, Anstand, Verantwortungsbewusstsein...

„Wir lassen keinen zurück“ ist ein Prinzip, aus dem Stärke für alle erwächst. Es wäre an der Zeit, auch das deutsche Schulsystem danach auszurichten.                                               Andreas Pecht



(Erstabdruck am 19. Mai 2010)

Auswahl früherer Artikel zum Themenkreis "Schule":

2008-11-15 Analyse/Kommentar:
Bildungsoffensive in schwerer See. Schülerproteste, Lehrerfrust und die Schönwettermacher von der KMK


2008-04-11 Analyse:
Anmerkungen zum Reformprozess
im deutschen Schulwesen


2007-11-29 Kommentar:
Zu den Ergebnissen der jüngsten
IGLU- und PISA-Studien


2006-04-04 (Review) Essay:
Lernen - das größte aller Abenteuer


2002-01-01 Neujahrsessay:
Nach dem PISA-Schock: Unsere Schulen brauchen Neuorientierung



 
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