Kritiken Theater
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2010-04-12a Ballettkritik:

Stephan Thoss macht in Wiesbaden aus dem Märchen-Ballett ein intensives Tanzdrama für Erwachsene


Dornröschen kämpft sich aus der Depression heraus


 
ape. Wiesbaden.  Um ein Missverständnis gleich aufzuklären: Die jetzt am Staatstheater Wiesbaden herausgebrachte „Dornröschen“-Choreographie ist kein opulentes Aussattungs-Ballett fürs Kinderprogramm. Vertanzt wird nicht das Märchen aus der Grimm'schen Sammlung. Auch nicht dessen Vorläufer von Charles Perrault, auf dem Marius Petipas Urballett zur Musik von Tschaikowsky 1890 beruhte. Wiesbadens Tanzchef Stephan Thoss formt  vielmehr aus hintergründigen Deutungsmöglichkeiten des Märchenstoffs eine neue Geschichte für Erwachsene.


Der zweieinhalbstündige Abend nimmt seinen Ausgang bei einem unglücklich kinderlosen Paar, das sich in seiner Not eines Leihzeugers namens Frosch bedient. Bevor im Graben das Hausorchester unter Wolfgang Ott mit hier passend zurückhaltendem Romantikgestus Tschaikowskys Komposition anstimmt, greift auf der Bühne Tänzer Sandro Westphal zum Königsmantel. Er legt ihn kurz um, dann gleich wieder zur Seite. Will sagen: Wir erzählen nicht von hochherrschaftlichem Ungemach im Königreich Nirgendwo, sondern behandeln Fragen des wirklichen Lebens.

Es ist zuerst eine Freude, Westphal und Emilia Giudicelli beim Spiel liebender Zweisamkeit zuzuschauen. Wie sie sich necken, herumalbern, reizen, schmiegen. Ein junges Paar im Glück – das die für Thoss typische, aus der Palucca-Schule hergeleitete und weiterentwickelte Bewegungsästhetik (weit geöffneter, ausschwingender Körper aus der tiefen gespreizten Hocke heraus) auf ebenso furiose wie anrührende Höhen treibt. Überhaupt das tanztechnische Niveau: Die mit dem Amtsantritt des Ballettchefs 2007 in Wiesbaden neu zusammengestellte Compagnie hat seither einen bemerkenswerten Reifeprozess durchgemacht.

Doch es liegen Schatten über dem Paar. Des nachts grämt sich der Mann, sehnt sich die Frau: Sie möchten ein Kind, aber es klappt nicht. Durchs Fenster gleitet ins Haus: Wiesbadens tänzerisches Ausnahmetalent, der kleine schmale Yuri Mori als Herr Frosch. Dieser fremde Mann soll die Frau schwängern; das Paar will es so. Der Vollzug wird auf der Bühne zum großartigen Pas de trois zwischen Zaudern, Scham, Lust und Triumph. Ein Mädchen wird geboren, Dornröschen. Und während es zur Frau heranwächst taucht zum Leidwesen der Eltern wiederholt Frosch auf.

Als Dornröschen gewahr wird, dass dieser düstere Mensch ihr leiblicher Vater ist, verfällt sie in eine partielle Starre, die unschwer als Depression zu deuten ist. Männer machen ihr den Hof, doch nach einigen Versuchen des Umschlingens weist sie sie von sich. Es bedarf in Wiesbaden nicht des Pinzenkusses, um sie ins Leben zurückzuholen: Am Ende erweckt und befreit dies Dornröschen sich selbst via ungestümer Konfrontation mit ihrem Erzeuger. Die zartgliedrige, aber drahtige Ina Brüning tanzt die Titelrolle als Irrwisch zwischen mädchenhaftem verspieltem Überschwang und junger Frau am unbestimmten Rande urmächtiger Eruption.

Das Quartett Brüning, Mori, Westphal und Giudicelli beweisen an diesem Abend, dass der Thoss'sche Ballettstil nicht nur seine eigene Ästhetik hat, sondern auch eine ganz eigene, in menschliche Tiefen vordringende Erzählkraft entfalten kann. Thoss lässt zwar Geburtstagsgäste, Feen und andere Fantasie- oder Traumgestalten launige oder poetische Beiträge anfügen. Die sind ein Augenschmaus, dramaturgisch sinnfällig und teils wohl auch dem Nummerncharakter des Musikwerkes geschuldet. Zwingend notwendig sind sie für dieses im Kern kammerspielartige, ebenso interessante wie schöne Ballett nicht.                                                                                           Andreas Pecht 


Infos: www.staatstheater-wiesbaden.de


(Erstabdruck 13. Arpil 2010)


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