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2010-02-08 Vortrag:

Einführung zum Orchesterkonzert im Görreshaus Koblenz am 7. Februar 2010 (unkorrigiertes Redemanuskript, gesprochenes Wort leicht abweichend).

Programm: Werke von Telemann, Sallinen, Mozart und Gluck über Don Juan und Don Quichote.

Ausführende: Rheinische Philharmonie unter Daniel Raiskin, Solist Marko Ylönen (Violoncello).


Ein Nachmittag mit Don Juanquixote
 
 
ape.  Meine sehr verehrten Damen und Herrn, liebe Musikfreunde, seien Sie herzlich begrüßt zum zweiten Orchesterkonzert im Görreshaus in der Saison 2009/2010.

Hier unten am Rhein kann ja kaum jemand nachvollziehen, dass nur ein paar Kilometer den Westerwald hinauf  Anfang der zurückliegenden Woche durchaus nicht absehbar war, ob man außer Schneeschippen und Autos-Anschieben auch noch andere Pflichten würde erfüllen können.  Noch immer ist die Landschaft  da droben vollflächig weiß, liegen an Straßenrändern und auch in meiner Hauseinfahrten teils meterhoch geschobene und geschaufelte Schneemassen. Glücklicherweise hörte das Dauergeschneie rechtzeitig auf und hat nun Tauwetter eingesetzt. So blieb hinreichend Zeit, diesen Vortrag zu schreiben, und konnten Sie alle heute ohne Mühen und Gefahren hierher kommen, um meinen mehr oder minder erhellenden Ausführungen zu lauschen und anschließend ein ordentliches Qantum guter Musik zu genießen.


Nun zur heutigen Sachen!

Unser Konzert wird diesmal von keiner musikgeschichtlichen oder musikformalen Klammer gehalten. Es steht vielmehr unter einem übergreifenden, nicht ureigentlich der musikalischen Sphäre entstammenden Motto. Einem Motto, das übrigens auch recht gut passt zur fünften Jahreszeit, deren närrischen wie bukolischen Höhepunkt wir von Donnerstag an feiern dürfen. Mancher wird vielleicht sagen: erleiden müssen –  je nach Naturell. In karnevalistischer Manier auf den Punkt gebracht, lautet dieses Motto: MÄNNER.

Vorgeführt werden zwei besondere Vertreter dieser seltsamen Spezies: Don Juan und Don Quichote. Beide sind wegen ganz verschiedener Eigenschaften zu Weltberühmtheit gelangt. Beide geisterten zuerst als literarische Figuren durch die Kulturgeschichte, wurden aber bald auch Gegenstand zahlloser musikalischer Verarbeitungen. Vier davon bekommen wir beim heutigen Konzert zu hören.

Wer sich mit den zwei Herren etwas auskennt, dem möchte auf den ersten Blick ihre Zusammenführung zum gemeinsamen thematischen Dach nicht recht einleuchten. Hier der skrupellose Verführer und Mörder Don Juan, dessen Schritte eine breite Schneise verlorener Jungfräulichkeiten, gebrochener Frauenherzen und gehörnter Ehegatten in die Welt schlagen. Auf der anderen Seite Don Quichote, der liebenswert bekloppte, aber völlig harmlose Ritter von der komisch-traurigen Gestalt. Beide in einem Atemzug aufzuführen, beide gar in dem Kunstnamen Don Juanquichote zu verschmelzen, das kann einem schon etwas spanisch vorkommen.

Der finnische Komponist Aulis Sallinen hat aber genau das gemacht. Nicht nur im Titel seiner „Nocturnal Dances“, nächtlichen Tänze, „of Don Juanquixote“. Die Komposition für Cello und Streichorchester verwirbelt  sogar musikalisch Aspekte beider Männerpersönlichkeiten. Und das auf überaus interessante, vor allem sehr sinnliche Weise, wie sie nachher werden feststellen können: Die Juanquichote-Tänze sind der zweite Programmpunkt beim nachherigen Konzerts.

Sallinen ist ein Zeitgenosse von uns, er lebt noch. Geboren 1935 im später sowjetischen Teil Kareliens, gehört der heute 74-jährige Landsmann von Sibelius seit den 1960er-Jahren zur Creme der skandinavischen Gegenwartskomponisten. Natürlich hat auch er in jungen Jahren mit der Zwölftontechnik und anderen Modernitäten experimentiert. Zusammen mit Hans Magnus Enzensberger schuf er beispielsweise die antiautoritäte Oper „Der Palast“ – ein nicht gerade leicht verdaulicher Brocken.  Aber für Sallinen war Avantgardismus kein Dogma, kein Muss. Vielmehr galt ihm auch der Rückgriff auf klassische Harmonik und Stilistik als gern geübte Selbstverständlichkeit. Was ihm bisweilen den Vorwurf einbrachte, dem Zuhörer allzu gefällig entgegenzukommen.

Seine Don-Juanquichote-Tänze entstanden in den 1980ern und sind ein hinreißendes Kabinettstückchen charakterlicher, atmosphärischer, klanglicher Kontraste. Uraufgeführt wurde das Stück 1986 vom English Chamber Orchestra unter Vladimir Ashkenazy und ist seither fester Bestandteil des Cello-Repertoires. Den Solopart spielte damals der finnische Cellist Arto Noras; diese Aufgabe übernimmt bei unserem Konzert dessen 24 Jahre jüngerer Landsmann Marko Ylönen.

Unter vibrierenden Streichern beginnt das Werk in nordisch-mystischer Nachtfärbung, verströmt bald den Schwermut des Blues, gleitet bald ins spanische Kolorit oder zum Tango hinüber, frischt volkstanzartig auf mit Elementen von Walzer, Foxtrott und Ragtime. Etwa zur Halbzeit des Stückes taucht an der Seite des Solocellos plötzlich eine auffällige Violin-Stimme auf.  Denken wir uns das Cello als den vereinigten Titelhelden Juanquichote, so lässt sich diese Violinstimme unschwer als musikalisches Sinnbild für die sich tatsächlich recht ähnlichen Diener der beiden Herren identifizieren: Leporello als Dienstmann Don Juans und Sancho Pansa als der auf dem Esel reitende Begleiter Don Quichotes. 

Aber ganz so einfach, wie sich das jetzt anhört, macht es uns Sallinen dann doch nicht. Die populären Musikanklänge sind vielfach gebrochen, und vorallem sind sie eingebettet in eine klangliche Gegenwelt aus Clustern und Akkordballungen oft jenseits der klassischen Harmoniestrukturen. Die Komposition verweist in ihrer Ambivalenz gewissermaßen musikalisch auf die zwei unterschiedlichen Seiten ein und derselben Medaille: Auf Don Juan den größten Verführer aller Zeiten, sowie auf Don Quichote, den kindlich-naiv in Ritter-Abenteuer versponnenen und  von der einzig wahren Dulcinea träumenden Helden. Tragik trifft auf Komik.

Don Juanquichote, das meint: Einheit der Gegensätze, zwei Seiten derselben Medaille. Und die Medaille heißt: MANN. Um noch einmal eine fastnachts-gemäße Deutung zu wagen: Meine verehrten Damen, Sie wissen, wovon die Rede ist – von den Herren der Schöpfung, die einerseits  allweil den starken Mann markieren, angeblich die Welt gestalten und glauben (glauben!), jede Frau erobern zu können. Von Mannsbildern, die andererseits die Größe ihres Automobils mit persönlicher Bedeutung verwechseln oder die eigene Power mit derjenigen ihrer Kinohelden. Dazu passt dann, dass sie sich ängstlich hinterm Bierglas verstecken, sobald Damenwahl ausgerufen wird. 

Lassen sie uns kurz – und nun wieder ernsthaft – einen Blick auf die Herkunft der heute hier zur Rede stehenden Mannstypen werfen. Fragte man junge Leute nach Don Juan, könnte die Antwort lauten: durchgeknallter Johnny Depp, der von Marlon Brando psychiatrisch behandelt wird. In diesem Fall hätte die prägende Erstbegegnung mit dem Don-Juan-Stoff im Kino oder vor dem Fernseher stattgefunden anhand des 1995 gedrehten US-Spielfilmes „Don Juan de Marco“. Würde man ältere Herrschaften nach Don Juan fragen, könnte einem die Gegenfrage blühen: Meinen sie Mozarts Don Giovanni? Denn keine Bearbeitung des Don-Juan-Themas hat sich ins traditionelle Kulturgedächtnis so tief eingegraben wie die Mozart-Oper von 1787 nach dem Libretto von Lorenzo Da Ponte. Die Ouvertüre zu dieser Oper bekommen wir heute ebenfalls zu hören. Kurz angemerkt sei: Don Juan ist der spanische Name, Don Giovanni die italienische Form davon.

Die Geschichte von Don Juan ist allerdings kein Produkt der Mozart-Zeit, sondern reicht viel weiter zurück. Bereits im 14. Jahrhundert tauchte in Spanien eine Sage auf, die schon alle wesentlichen Ingredienzien des Stoffes enthielt. Wahrscheinlich ist die Sage als eine Art Empörungsreaktion des einfachen Volkes auf die Untaten eines adligen Gefolgsmannes des kastilischen Königs Pedro I. entstanden. Der Mann hieß tatsächlich Don Juan.  Er soll sehr grausam gewesen sein und obendrein die Tochter des von ihm erschlagenen Gouverneurs von Sevilla verführt, also entehrt haben. Jene Legende dichtet dem Unhold gleich die gerechte Strafe an: Übermütig und gotteslästerlich habe Don Juan eine steinerne Statue des Gouverneurs zum Nachtmahl eingeladen. Diese sei dann auch wirklich erschienen –  um den entsetzten Don gnadenlos in die Hölle zu verfrachten.

Sie erkennen darin unschwer das Grundgerüst von Mozarts Oper „Don Giovanni“  oder auch von Molieres Komödie „Dom Juan“ wieder. Diese Geschichte hat über die Jahrhunderte nicht nur weltweite Verbreitung gefunden, sondern auch allerlei Metamorphosen durchlaufen. Anfangs vor allem im Umfeld von Klöstern dem Volke als mahnende und abschreckende Moritat gegen gottlose Unsittlichkeit gezeigt, machten nachher die Possenreißer der Commedia delArte auf italienischen Marktplätzen daraus ein deftig-frivoles Lustspiel.

Der kalauernde Grundgedanke dabei knüpfte an das Phänomen historischer Zeit an, dass Männer gewöhnlich wesentlich jüngere Frauen heirateten. Woraus die Komödianten folgendes ableiteten: Weil in solchen Ehe-Konstellationen die jüngere Weiblichkeit einfach nicht auf ihre Kosten kommen kann, öffnen hochgestellte Damen und niedere Weiber einem richtigen Kerl und gewieften Verführer wie Don Juan nur allzugern die Hintertüren.

Sie sehen, meine Damen und Herrn: Sex spielte in der Unterhaltungskultur schon damals eine große Rolle. Mehr noch: Bereits im Volkstheater der Antike gab es an breites Repertoire von Elementen, die man heute durchaus als pornografisch bezeichnen könnte.  

Moliere macht aus dem vulgären Brettlspiel der Italiener eine zwar noch immer saftige, doch kunstvolle Satire auf eine Adelsklasse, die Wasser predigt, aber Wein säuft. Je mehr im Laufe der Zeiten der ureigentlich tragische Stoff zur Komödie mutiert, umso mehr nimmt Don Juan ambivalente Züge an: Einerseits gewissenloser Entehrer der Frauen und Mörder, andererseits Freigeist, der dröge Konventionen missachtet und durch allerlei gesellschaftliche Normen unterdrückte Libido befreit. Schließlich und gerade in jüngerer Zeit dient Don Juan als Projektionsfläche für die zunehmend unerfüllte Sehnsucht nach einfallsreicher, beharrlicher,  raffinierter, glühender Werbung des Mannes um die Frau. Es kommt nicht von ungefähr, dass in der Rezeption des 19. Jahrhunderts Giacomo Casanova vielfach als legitimer Erbwalter des Don Juan angesehen wird.

So begegnen uns dieser Don Juan und zumeist auch die seinen Verführungskünsten ausgesetzten Frauen in zahllosen Verarbeitungen seit dem 17. Jahrhundert als zwiegespaltene Persönlichkeiten. Der Mann: mal skrupelloser und vom Dämon der Brunft getriebener Tunichtgut, mal die Sünde lohnender Liebesgott. Die Frauen häufig im Zustande eines „halb zog er sie, halb sank sie hin“.  Für diese Zwiespältigkeit bei „Täter“ und weiblichen „Opfern“ findet Mozart mit seinem „Don Giovanni“ musikalisch genial die richtige Schwebe. Korrekt heißt der Titel der Oper ja „Il dissoluto punito ossia il Don Giovanni“. Auf gut Deutsch: Der bestrafte Wüstling oder Don Giovanni. Die Oper bezeichnet sich als Dramma giocoso, als lustiges Bühnenspiel, versteht sich also als Opera buffa.

Was aber tut Mozart gleich mit den ersten Takten der Ouvertüre?  Er konterkarriert gewissermaßen den gewöhnlich munteren Stimmungsauftakt des Buffa-Genres: Mozart zeichnet, wie Sie nachher hören werden, mit einem düster-dramatischen Andante in d-Moll eine tragische, dämonische, faustisch-schicksalhafte Atmosphäre in den Raum.  Erst nach einer Weile wechselt er die Tonart, rutscht hinüber in leichte, beschwingte, auch augenzwinkernde Färbung –  die indes selten völlig frei ist von untergründigen Anklägen an ernsteres Geschehen. Genaugenommen ist „Don Giovanni“ ein Zwitter aus der humorigen Opera buffa und der ernsthaften Opera seria; im Schauspiel nennt man solche Zwitter Tragikomödien. Und diese Zwischenstellung wird in der extremen Gegensätzlichkeit der Ouvertüre-Elemente dem Publikum mit auf den Weg gegeben.

Hält Mozart die Schwebe zwischen Komödie und Tragödie, so neigen die meisten der zur  Don-Juan-Ballettmusik von Christoph Willibald Gluck entstandenen Tanzchoreografien eher der tragischen Seite zu. Selbst in der Gegenwart ist das noch der Fall. Ich erinnere eine 1972 in Frankfurt   uraufgeführte Don-Juan-Choreografie von John Neumeier. Darin befindet sich die Titelfigur fortwährend auf der sehnsuchtsvollen Suche nach einer geheimnisvollen Frau in Weiß. Als Juan sie schließlich findet, enthüllt sich ihr Wesen als das eines Todesengels. Auf den ersten Blick mag einem diese Interpretation etwas weit hergeholt erscheinen. Bei genauerem Überdenken wird jedoch die Verwandtschaft zur Mozarts untergründigem Blick augenfällig: Auch bei Wolfgang Amadeus geht Don Juan in triebhafter Zwangsläufigkeit einem tödlichen Schicksal entgegen.

Wir hören heute einen viersätzigen, von Hermann Kretzschmar bearbeiteten Auszug aus Glucks Ballettmusik. Die gibt es auch in einer sehr voluminösen, aus 31 Teilen bestehenden Originalfassung. Die Uraufführung mit 15 Teilen fand 1761 im Wiener Burgtheater statt – und war eine Revolution in der Ballettgeschichte. Denn erstmals kam damit ein abendfüllendes Ballett auf die Bühne, das mit den Mitteln von wortlosem Tanz und wortloser Musik eine durchgängige Handlung erzählte.

Angezettelt wurde diese Revolution vom Komponisten Gluck im Schulterschluss mit dem Choreographen Gasparo Angiolini und in Anlehnung an die Ideen des Tänzers Jean-Georges Noverre. Mit ihrem neuartigen Stil des „Ballett pantomime“ traten sie gegen die damals übliche Praxis an, Ballett als beliebige Folge von Showtanznummern zu servieren. Erstmals traten Musik und Bühnentanz auch als gleichberechtigte, einander durchdringende künstlerische Ausdrucksmittel auf.

Die Öffentlichkeit reagierte 1761 auf die Uraufführung des Don-Juan-Balletts überwiegend mit blankem Entsetzen. Musik und Handlung, insbesondere die darin ausgeformten Todesqualen und die Höllenfahrt des Don Juan wurden als furchtbar trostlos und ganz schrecklich empfunden. Und doch führte – wir kennen das – die Faszination des Schreckens diesem Ballett einen steten Strom neugieriger Zuschauer zu. Es wird nachher interessant sein zu sehen, wie Glucks an Effekt- und Kontrastelementen so reiche, doch ins sich logisch geschlossene Musik auf uns heutige Hörer wirkt.       

Kommen wir nun zum anderen unserer beiden Helden, zu Don Quichote. Ich möchte zuerst einmal daran erinnern, dass es sich bei dem betreffenden Roman von Miguel de Cervantes ursprünglich um eine Art Kampfschrift wider den modischen Zeitgeist handelte. Der erste Teil des Buches erschien 1605, der zweite 1615. Es trägt im spanischen Original den Titel:  „El ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha“, was sich übersetzen lässt als „der einfallsreiche“, vielleicht auch „der einfältige Junker Don Quichote von da Mancha“.

Erzählt wird darin von einem unbedeutenden spanischen Landadeligen dürrer, lang aufgeschossener Statur, der sämtliche Geschichten über Ritterabenteuer im Mittelalter verschlungen hatte, derer er habhaft werden konnte. Damit lag die Figur von Cervantes im Trend der damaligen Zeit, denn Ritterfabeln waren im späten 16., frühen 17. Jahrhundert, also im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, ganz groß in Mode – je unwahrscheinlicher und fantastischer die Story, umso größer die Begeisterung beim Publikum.

Erlauben Sie mir einen kleinen Exkurs. Dieses Phänomen des fantasierenden Rückgriffs auf untergegangene Lebensweisen kehrt in historischen Umbruchphasen verstärkt immer wieder. Die Verunsicherung oder das Verlustgefühl angesichts neuer Zeiten löst idealisierende  Rückerinnerung aus: die vorherige Epoche wird stilisiert zur  „guten alten Zeit“ oder sogar zum goldenen Zeitalter – nach der Devise: Früher war alles besser. Nicht zufällig entsteht im 19. Jahrhundert die vielfach wieder auf Ritter-, Hexen-, Geister- und Natur-Mythen bauende Romantik. Sie entsteht als geistig-emotionale Gegenbewegung zur kalten Rationalität der industriell-wissenschaftlichen Revolution.

Und nicht zufällig erleben wir seit gut 20 Jahren – also seit dem Durchbruch des marktliberalen Ökonomismus zum allgemeingültigen Leitmotiv der Realität – einen Boom historischer und mystischer Themen in Literatur, Film und auf anderen Feldern. Denken sie an archaische Streifen wie „Conan, der Barbar“ oder an die gewaltige Flut von Historienschmökern wie die unlängst auch verfilmte „Päpstin“. Denken sie an die Harry-Potter-Welle mit ihrer zauberisch-mystischen Gegenwelt, oder denken sie an die jüngste Flut, die uns mit bösartigen bis liebestollen Vampiren überschwemmt.

Cervantes Don-Quichote-Roman ist freilich von ganz anderem Kaliber.  Er führt vor, wie die maßlose Lektüre von Rittergeschichten seinem Helden den Geist verwirrt, weil der alles für bare Münze nimmt, was er da liest. Die Folgen sind bekannt: Quichote hält sich selbst für einen Ritter, erklärt seinen alten Gaul zum edlen Schlachtross, fantasiert sich ein Bauernmädel zum geliebten Edelfräulein. Er zieht in einer rostigen Rüstung aus seines Urgroßvaters Zeit hinaus, um die Welt mit vorgestriger Rittertugend von Bosheit, Schlechtigkeit und Ungerechtigkeit zu befreien. Vordergründig macht sich der Mann bei seinen Zeitgenossen zum Deppen.

Das, meine Damen und Herren, ist einerseits Medien- und Zeitgeistkritik  vom allerfeinsten. Andererseits aber ist das Cervantes-Werk auch Weltliteratur höchsten Ranges, insofern die Konfrontation des idealistischen Spinners mit der ihn verlachenden Umwelt bohrende Fragen  
nach der Qualität, nach dem Sosein der profanen Realität heraufbeschwört. Was ist Traum, was Wirklichkeit? Wo finden wir Menschliches und Menschlichkeit eher: Im Erträumten oder im real Erreichten? Don Quichotes Ideale von Edelmut, Aufopferung, selbstlosem Liebesdienst: Sind sie bloß närrisch oder in Wahrheit nicht doch Spiegelbild unserer klammheimlichen Sehnsucht? Gebührt nicht eigentlich dem, der mutig gegen Windmühlen kämpft die Ehre; dem aber Verachtung, der immer nur gleichgültig die Hände in den Schoß legt und wider besseres Wissen den Dingen ihren schlechten Lauf lässt?

Solche und ähnlich gewichtige Fragen stecken zuhauf in diesem poetischen Roman, der zu guterletzt die Narren zu Weisen macht: Den spintisierenden Ritter von der traurigen Gestalt auf der einen Seite, seinen ebenso gewitzten wie fürsorglichen Sancho Pansa auf der anderen.

Die Abenteuer des Ritters aus La Mancha gehören zu den meistvertonten Stoffen der Musikgeschichte. Allein 50 szenische Bühnenwerke greifen auf den Stoff von Cervantes zurück, die instrumentalen Berarbeitungen hat wohl noch niemand gezählt.

Wenn unser Konzert gleich mit Georg Philipp Telemanns Orchestersuite „Burlesque de Quixotte“ beginnt, werden wir natürlich alle den musikalischen Raffinessen lauschen, mit denen der Komponist einige Episoden aus Cervantes Geschichte klanglich nachzeichnet. Das gebietet die Natur unserer Neugierde – Kinder machen es ganz genau so, weshalb  die Quixotte-Suite von Telemann auch sehr gern für Kinderkonzerte  genommen wird. Und da wollen wir uns auch gar nicht genieren: Denn wie Kinder die Dinge sehen und anpacken, ist das Schlechteste nicht, steht schließlich schon in der Bibel.

Es ist aber auch ein gar zu schöner Spaß, dieser Programmmusik die musikalischen Entsprechungen zur Quichote-Geschichte abzulauschen. Das Rauschen der Windmühlenflügel und die ebenso mutige wie kuriose Attacke des dürren Ritters gegen die vermeintlichen Riesen. Seine sehnsüchtigen Liebesseufzer in fallenden Sekundschritten beim Gedanken an Dulcinea. Und ein nicht nur Kinder begeisternder Hit ist immer wieder das Ballett der Vierbeiner: der Galopp des klapprigen Gaules Rosinante gegen den Galopp des rheumatischen Esels von Sancho Pansa. Wunderbar, wie Telemann hier musikalisch den literarischen Kniff von Cervantes nachvollzieht, in den Reittieren deren Herren charakterlich zu spiegeln.

Doch Telemanns Musik ist mehr als bloß klangliche Imitation äußerer Szenarien durch einen hörbar amüsierten Tonsetzer. Geboren 1681, lebte der Komponist zu einer Zeit, in der – anders als heute - Beschäftigung mit Don Quichote stets auch Auseinandersetzung mit den literarischen Tiefendimensionen des Werkes bedeutete. Und wir wissen, Telemann war  nicht nur einer der produktivsten Komponisten überhaupt, er war auch ein intellektuell hellwacher und literarisch interessierter Kopf. Was kaum bekannt ist: Er schrieb selbst Gedichte.

Demnach wäre es sehr verwunderlich, enthielte seine Quichote-Burleske nicht auch Elemente von literarisch-philosophischem Verweischarakter und tiefschürfender Poesie. Die gibt es in der Tat, und am ehesten nehmen wir sie wahr eingangs im Abschnitt „Don Quichotes Erwachen“ und am Ende bei „Don Quichotes Ruhe“. Denn dort wird unsere Aufmerksamkeit weniger von tonmalerischen Action-Nachbildungen eingenommen als in den dazwischenliegenden Szenen.

So viel von mir zum heutigen Helden- respektive Antiheldenprogramm. Alles übrige bleibt ihrem Ohr, Herz und Hirn überlassen.

Nun viel Freude beim Konzert. Und: Kommen Sie gut durch die Fastnacht, oder den Karneval oder was auch immer.  
                                                                                        Andreas Pecht     
 

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