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2009-11-21 Feature/Analyse:

Chancen und Grenzen der Digitalisierung? Eine Lagebeurteilung am Beispiel Landeshauptarchiv Koblenz
 

Der Traum vom Weltarchiv im Internet
 
 
ape. Das digitale Zeitalter macht auch vor den guten alten Archiven nicht halt. Gewaltige, nach  Akten-Kilometern bemessene Bestände sollen elektronisch erfasst werden. Sollen auf ewig sicher und zugleich für jeden zugänglich sein. Der Traum vom Internet-Zugriff aufs gesamte Gedächtnis der Menschheit geht um. Im rheinland-pfälzischen Landeshauptarchiv Koblenz sind wir einigen Aspekten der derzeit in Fachkreisen international heftig diskutierten Frage nach Chancen und Grenzen der Archiv-Digitalisierung nachgegangen. 


Das Unglück rückte im März 2009 eine sonst von der breiten Öffentlichkeit wenig beachtete Einrichtung ins Zentrum des Interesses: das Kölner Stadtarchiv, eingestürzt infolge U-Bahn-Baus. Zwei Tote und der drohende Verlust unersetzbarer Originalzeugnisse aus der Stadtgeschichte lösten weithin Betroffenheit aus. Mit einem Schlag hatte das traurige Ereignis die Bedeutung von Archiven als Teil des kollektiven Gedächtnisses ins allgemeine Bewusstsein zurückgebracht. Zugleich war damit in neuer Schärfe die Frage nach Sicherung der Archivbestände für nachfolgende Generationen aufgeworfen.

Diese Frage beschäftigt Archivare und Bibliothekare seit es ihre Zunft gibt. Ob im pharaonischen Ägypten, in der griechisch-römischen Antike oder im Mittelalter: Für Archive und Bibliotheken galten stets besondere Sicherungsmaßnahmen gegen Wetter, Wasser, Feuer, Diebstahl. Oft vergeblich. Die legendäre Bibliothek von Alexandria beispielsweise wurde vor gut 2000 Jahren ein Raub der Flammen – mit kulturellen Folgen bis in die Gegenwart: Hunderttausende Pergament- und Papyrusrollen verbrannten, mit ihnen ging uns ein großer Teil der Überlieferung hellenischer Hochliteratur verloren.

Logisch, dass moderne Archive zur Sicherung ihrer Bestände Technik von heute einsetzen. Im Koblenzer Landeshauptarchiv schließen feuersichere, schwere Metalltüren jeden Depotraum ab. Drinnen herrschen konstante Temperaturen von 17 Grad Celsius und 45 Prozent Luftfeuchtigkeit. Die Sprenkleranlage würde in den „Schatzkammern“ des Archivs im Brandfall nicht Wasser versprühen, sondern sie mit CO2-Gas fluten, so die Flammen ersticken, ohne die Archivalien zu schädigen.

Sicherung "für alle Zeiten"

Doch damit sind die Ansprüche an ein Archiv längst nicht erfüllt.  „Die Archive sammeln und erhalten die schriftlichen Zeugnisse unserer Vergangenheit für alle Zeiten, damit auch künftige Generationen auf der Grundlage der Erfahrungen aus Jahrhunderten ihre Gegenwart begreifen und ihre Zukunft gestalten können.“ Mit diesem programmatischen Satz begrüßt das Landesarchiv die Besucher auf seiner jetzt neu gestalteten Internetseite. „Für alle Zeiten“ verlangt ein Denken und Handeln, das zumindest mal auf etliche Jahrhunderte abzielt; das Eventualitäten wie Erdbeben und Kriege ebenso berücksichtigt wie profanen Papierfraß und Tintenbleiche.

Vakuumverpackt in Edelstahlkapseln tief unter der Erde für alle Zeiten wegsperren, das wäre eine Möglichkeit. Von der auch Gebrauch gemacht wird: Der Barbarastollen im Breisgau dient als „Zentraler Bergungsort der Bundesrepublik Deutschland“ für Dokumente von herausragender nationaler und kulturhistorischer Bedeutung. Archive aus ganz Deutschland lagern dort besonders wichtige Kernstücke ihrer Bestände ein – allerdings nicht die Originale, sondern nur fotografische Sicherungskopien davon.

Denn sie unerreichbar wegsperren, wäre zwar vielleicht die sicherste Lösung, würde aber einer anderen Zwecksetzung von Archiven widersprechen, die die Koblenzer Archivleiterin Elsbeth Andre so beschreibt: „Es ist auch unsere Aufgabe, die Bestände Behörden, Wissenschaftlern, Bürgern, der Gesellschaft generell zugänglich zu machen.“ Archive wollen und sollen genutzt werden. Doch allzu häufiges Hervorkramen tut den teils bis ins frühe Mittelalter zurückreichenden Originalen nicht gut. Weshalb die größeren Archive schon vor Jahren begonnen haben, ihre Bestände Blatt für Blatt abzufotografieren.

Eine Arbeit für Jahrzehnte

Wann immer möglich und vertretbar, arbeiten Archivnutzer seither in den Lesesälen  nicht mit  Original-Dokumenten, sondern an speziellen Lesegeräten mit fotografischen Kopien.  40 Millionen Dokumente liegen in Koblenz „verfilmt“ vor. Ein gewaltiger Posten – und doch sind das nur rund 10 Prozent der 48 Kilometer Aktenbestände des Archivs. „Damit liegen wir bundesweit bei der Verfilmung im guten Mittelfeld“, erklärt Elsbeth Andre. 10 Prozent, im Mittelfeld, obwohl der Prozess der Verfilmung schon vor vielen Jahren begann? Wie lange möchte es dauern, bis die Nachfolgetechnik - die Nutzung der Archivinhalte via Computer - über eine relevante Datenbasis verfügt? Bislang liegen beim Koblenzer Landesarchiv gerade 1,2 Millionen Dokumente digitalisiert vor. Und das ist durchaus nicht schlecht im deutschen Durchschnitt.

Zumal dem Koblenzer Archiv Jahr für Jahr 800 Meter neue Papierakten zufließen. Die werden von den Archivaren  nach Wichtigkeit und Sinnhaftigkeit aus den noch viel umfänglicheren Papierbergen selektiert, die das Geschäft von Regierungen und Behörden des Landes Rheinland-Pfalz ständig hevorbringt. Auch diese Akten wollen gesichtet, gewichtet, strukturiert, katalogisiert werden. Es ist die gigantische Größe der Aufgabe, die selbst den Laien bald ahnen lässt, dass das mit der Digitalisierung der Archivbestände so einfach wohl nicht gehen wird, erst recht nicht schnell.

Obwohl das technische Prinzip dafür eigentlich simpel ist: Papierdokument aus dem Depot holen -  auf den Scanner legen – einscannen –  abspeichern – ins Netz stellen – fertig. Da lacht die Archivleiterin und erinnert an knifflige Aspekte. In Koblenz müssten ein halbe Milliarde Dokumente Stück um Stück gescannt werden: „Denken sie an den Personal- und Zeitaufwand, denken sie an die enormen Speicherkapazitäten, die benötigt werden.“ Obendrein kann der Digitalisierungsprozess nicht wie am Fließband ablaufen. Denn, erstens, auch in digitalisierter Form müssen die Bestände von Archivaren-Hand sinnvoll strukturiert werden, sonst findet man nacher nie, was man sucht. Und, zweitens, Tausende vor allem historischer Archivalien –  Handschriften und Karten etwa - lassen sich nicht schadlos auf den Scanner legen, sondern nehmen zur Digitalisierung den Umweg über ein spezielles Fotoverfahren.

Nicht alles, aber ein Inhaltsverzeichnis davon

Müssen wir somit den Traum vom jederzeit jedem zugänglichen Landes-, Bundes-, Weltarchiv im Internet als illusorisch aufgeben? Wenn darunter verstanden wird, dass wir sämtliche Archivbestände eins-zu-eins daheim auf den Bildschirm holen können, dann: vorerst ja. Dahin zu kommen, wird noch Jahrzehnte dauern. Weshalb die Anstrengungen der Archive sich international und in Koblenz gegenwärtig hauptsächlich auf zwei Elemente konzentrieren: Digitalisierung einer Auswahl bedeutsamer und häufig nachgefragter Zeitzeugnisse sowie vor allem Digitalisierung der Findbücher nebst Aufbau eines öffentlichen elektronischen Registers über die Archivbestände. 

Sich selbst mit den Archivaren in Verbindung zu setzen oder in den Lesesaal des Archivs zu begeben, wird also vielen Forschern und interessierten Bürgern auch künftig nicht erspart bleiben. Was sich allerdings gehörig verbessert, sind die Möglichkeiten zur systematischen Vorbereitung am eigenen PC auf die gezielte Suche im richtigen Archiv vorort. Das mag ganz auf Internet-Recherche kaprizierte Zeitgenossen nicht befriedigen. Aber der in Archiven gesammelte, geordnete und gesicherte Teil des Menschheitsgedächtnisses ist nunmal 

kein Datensatz, den man im Handumdrehen ins Netz einspeisen könnte.


Aber: Wie schnell oder langsam dieser Prozess künftig auch immer vorankommt, gute Archive werden niemals allein auf die Präsenz ihrer Dokumente im Internet bauen. Es gilt das Prinzip der  Mehrfachsicherung. Auch Digitaldokumente werden hausintern gesichert. Koblenz benutzt dazu einen sehr einfachen PDF-Standard, von dem man annimmt/hofft, dass auch die Computertechnik im 23. oder 25. Jahrhundert ihn noch wird lesen können. Falls nicht, bleiben der Nachwelt die papierenen Originale – unbestechliche, keiner elektronischen Unwägbarkeit ausgesetzten Zeitzeugnisse. Deren Erhalt war, ist und bleibt eine der vornehmsten Aufgaben der Archive. Das hat etwas Beruhigendes.                                                          Andreas Pecht

www.landeshauptarchiv.de


(Erstabdruck einer gekürzten Fassung am 23.  November 2009)

Archiv-Digitalisierung, Landeshauptarchiv Koblenz, Diskurs
 
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