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2009-05-10 Vortrag:

Einführung Orchesterkonzert im Görreshaus Mai 2009
(unkorrigiertes Vortragsmanuskript).

Dirigent Daniel Raiskin, Solist Alexander Paperny, Rheinische Philharmonie. Werke von Rimski-Korsakow,  Arenski, Kolmanovski, Budaschkin und anderen Russen.
 

"Die Balalaika ist die Seele des russischen Volkes"
 
 
ape.  Meine sehr verehrten Damen und Herrn,
seien Sie herzlich willkommen zum dritten Görreshaus-Orchesterkonzert in der Saison 2009/2010.

In der Regel ist es bei diesen Konzerten ja so, dass man beim Blick aufs Programm feststellt: Aha, da ist EIN Komponist dabei, den man nicht kennt; alle Übrigen, also die meisten, sind einem über die Jahrzehnte schon mal begegnet und mehr oder minder vertraut. Beim heutigen Konzert ist das Verhältnis andersrum: Einen der vertretenen Komponisten kennt wahrscheinlich jeder, zumindest dem Namen nach; von den vier anderen allerdings haben die meisten hier im Saal noch nie was gehört. Darauf würde ich  wetten, denn selbst bei meiner Wenigkeit war das noch bis vor drei Tagen der Fall: Rimski-Korsakow ist sozusagen der einzige alte Bekannte; Alexander Schalov = mir unbekannt; Nikolai Budaschkin = ebenfalls unbekannt; Sergej Kolmanowski = ist das nicht?, hat der nicht neulich mit jüdischer Musik oder so...? Eine vage Ahnung, sonst keine Spuren im Gedächtnis. Und Anton Arenski? Hatte ich den Namen nicht irgendwann irgendwo schon mal gelesen???

Beunruhigende Konfusion im Kopfe des Referenten, weshalb er sich diesmal bei der Vortragsvorbereitung nicht allein auf Bücherschrank und Plattensammlung verlassen konnte. Entgegen sonstiger Gewohnheit schlich ich mich vorab auch in die Proben des Orchesters und spielte Mäuschen.    

Was Sie heute erleben werden, ist ein etwas ungewöhnliches Konzert. Es ist ein Wunschkonzert, gewissermaßen. Es erfüllt dem Chefdirigenten Daniel Raiskin einen sehr persönlichen Wunsch:
Nämlich, dem Publikum in seiner neuen Wahlheimat Koblenz einmal ein Spektrum der Musik seiner russischen Ursprungsheimat vorzustellen, das im hiesigen Konzertbetrieb kaum je zu Gehör kommt. Nicht, dass russische Komponisten in deutschen Konzertsälen keine Rolle spielen würden. Das Gegenteil ist der Fall: Tschaikowski, Strawinsky, Schostakowitsch, Rachmaninow, Mussorgski und etliche andere sind seit langem feste und keineswegs bloß randständige Bestandteile des Repertoires unserer Orchester. Viele Werke von Russen halten auch aus Publikumssicht zurecht und unangefochten vordere Plätze in der höchsten Klasse des abendländischen Musikkanons.

Beim heutigen Konzert indes gibt es hierzulande wenig oder nie gespielte Werke von fünf russischen Komponisten, von denen wir vier kaum oder gar nicht kennen.  Beginnen wir auf vertrautem Terrain, mit Nikolai Andrejewitsch Rimski-Korsakow , 1844 nahe St. Petersburg geboren und 1908 nicht allzu weit weg davon in der Kleinstadt Luga gestorben. Dessen „Sinfonietta nach russischen Themen opus 31“ wird das heutige Konzert beschließen.

Allen drei Sätzen dieses Werkes liegen Volkslieder zugrunde, russische natürlich. Und auf diese Lieder beziehen sich programmatische Überschriften, die zwar in der Partitur der Sinfonietta selbst nicht mehr drin stehen, die aber aus einer zuvor entstandenen Streichquartettfassung bekannt sind. Jene Überschriften gehen so: 1. Satz „Auf dem Feld“ - nicht „im Feld“, der Acker ist gemeint, nicht das Schlachtfeld;  2. Satz „Auf dem Polterabend“, 3. Satz „Beim Rundtanz“. Feld, Polterabend, Rundtanz: Opus 31 bewegt sich also im bäuerlichen Umfeld, verbindet Arbeit und Lebensfreude in, man muss wohl sagen: idyllisierender Weise zu einer gutgelaunt rustikalen Musik.

Wie viele andere seiner musikalischen Kollegen in aller Herren Länder während des 19. Jahrhunderts, so forschte auch Rimski-Korsakow intensiv nach volksmusikalischen Ausdrucksformen, die typisch waren für seine Heimat. Der Russe wollte eine russische Nationalmusik entwickeln - wie Antonin Dvorak fast zeitgleich eine böhmische, wie Bela Bartok und Choltan Kodaly eine ureigen ungarische oder Jean Sibelius eine finnische.   Allesamt waren sie deshalb als Musiker auch Forscher in Sachen Volkskultur ihrer jeweiligen Heimat, sammelten systematisch Lieder, Tänze, Mythen und Sagen, die im einfachen Volk von Generation zu Generation überliefert wurden. 19. Jahrhundert, meine Damen und Herrn, welthistorisch ist das das Jahrhundert der Herausbildung von Nationalstaaten – und diese Tendenz spiegelt sich in der Musikgeschichte deutlich wider.

Bei näherer Beschäftigung mit der Biografie von Rimski-Korsakow stößt man nebenbei irgendwann auch auf den Namen Anton Arenski - mit dessen „Variationen über ein Thema von Tschaikowski, opus 35a“ das Konzert heute beginnt.

Denn der 1861 im russischen Nowgorod geborene und 1906 in Finnland gestorbene Komponist war ein Schüler von Rimski-Korsakow. Arenski verkehrte ziemlich lange freundschaftlich mit Tschaikowski, den er sehr verehrt haben soll, und der ihn auch nach Kräften gefördert hat. Arenski war übrigens nachher Lehrer von Alexander Skrjabin und Sergej Rachmaninow. Von ihm hätten die beiden, heißt es in einem lexikalischen Aufsatz, „dessen Sinn für geschmeidigen Wohlklang übernommen“. Mehrfach wird in der Literatur dem Arenski signifikante Zurückhaltung hinsichtlich musikalischer Dramatik attestiert. Das führt mal zu eher positiven Beurteilungen in dem Sinne, dass der Komponist sich einem „Ideal schlichter klanglicher Schönheit“ verpflichtet fühle. Im Gegensatz dazu wird Anton Arenski aber immer wieder auch wegen „gefälliger Glätte“ und mangelnder Orginalität abgetan  (in dieser Richtung äußerte sich auch Rimski-Korsakow rückblickend nicht eben löblich über seinen Zögling).

Wenn Sie nachher Arenskis Variationen hören, wird Ihnen schnell deutlich werden, woher die beiden gegensätzlichen Beurteilungen rühren – und es bleibt natürlich jedem von Ihnen überlassen, dann eher zur einen oder eher zur anderen Richtung zu neigen. Die Variationen für Streichorchester über ein Thema von Tschaikowski hat Arenksi dem zweiten Satz seines zweiten Streichquartettes entnommen. Jenes Quartett soll als ganzes ein ziemlich düsteres Werk sein; es entstand unmittelbar nach dem Tod von Tschaikowski und war von Arenski als Hommage, mehr noch wohl als Nekrolog auf den verehrten Freund gedacht. Die Ecksätze des Streichquartetts verarbeiten Elemente aus der russisch orthodoxen Totenmesse und schwermütige Motive aus russischen Volksliedern. Der Mittelsatz allerdings enthält sieben Variationen aus Tschaikowskis Kinderlied „Legende“, aus denen Arenski später das heute zu hörende Orchesterstück machte. Und darin konnte ich bei meinem Probenbesuch kaum mehr etwas von Düsternis erkennen.

Tschaikowskis Grundmotiv ist eine schlichte volkstümliche Weise, die man als Hörer sofort ins Herz schließen muss. Was Arenski variierend daraus macht, besticht weniger durch satztechnischnes Raffinement, als  durch sicheres Gespür für gefühlige Wirkung. Verträumtheit ist das Wort, das einem beim Hören immer wieder durch den Kopf geht. Eine leichte, bisweilen fast etwas beschwingte Melancholie durchzieht die generell stark von der Melodik dominierten Variationen. Diese Verträumtheit verflüchtigt sich auch dann nicht, wenn mal ein Teil der Stimmen in lebhafte  bis quirrlige Munterkeit, gar Ausgelassenheit übergeht. In den übrigen Stimmen setzt Arenski dann fast immer einen mäßigenden, lyrischen Gegenpol. Musikalische Spannungsbögen, die auf irgendeinen dramatische Höhepunkt hinzielen, sind Arenskis Sache offenbar nicht – er bescheidet sich mit Schlichtheit, Schönheit, Innigkeit, denen verstörende, erschütternde, aufrüttelnde Momente fremd sind. „Klangliche Schönheit“ oder „gefällige Glätte“? Die Wahl liegt bei Ihnen.       

Völlig unstrittig indes scheint Anton Arenskis Bedeutung als Musikpädagoge. Die  Lehr- und Übungsbücher, die er als Professor am Moskauer Konservatorium und nachher während seiner Zeit als Leiter der Petersburger Hofsängerkapelle verfasste, sind bis heute in Russland als Standardwerke in Gebrauch. Privat wurde Arenski aber alles andere als vom Glück verwöhnt: Seine Ehe muss eine Katastrophe gewesen sein, er erlag immer wieder der Spielleidenschaft, dann auch der Trunksucht. Schlussendlich raffte ihn 45-jährig die Tuberkulose hin.
  
Direkte oder indirekte Bezüge zur russischen Volkskultur sind ein zentraler Aspekt unseres heutigen Konzertes. Russische Volkslieder, russische Volksmusik wie Elemente der russisch-orthodoxen Kirchenmusik spielen bei Rimski-Korsakow eine Rolle und ebenso bei Anton Arenski. Im Falle  des 1945 geborenen und heute auch anwesenden Komponisten Sergej Kolmanowski kommt erstmal ein literarischer Bezug zur Geltung: Sein Musikwerk „Die toten Seelen“, dessen Welturaufführung wir nachher erleben, trägt nicht zufällig denselben Titel wie das Romanfragment von Nikolai Gogol aus dem Jahr 1842. 

Wobei Fragment, wenn ich das mal einwerfen darf, nichts über den Umfang aussagt: Gogols „tote Seelen“ umfassen immerhin 450 Seiten. Aber für Kürze sind die klassischen russischen Romane ja ohnehin nicht berühmt. Denken Sie an Anna Karenina, Schuld und Sühne, Krieg und Frieden – die sind nicht nur literarisch groß, sondern auch leiblich.

Man könnte jetzt die Frage aufwerfen: Was hat Gogol, dieser bedeutende Vertreter russischer Hochliteratur mit russischer Volkskultur zu schaffen? Auf so eine Frage käme innerhalb Russlands wahrscheinlich kein Mensch.  Es gibt dort ein Phänomen, das wir in Deutschland so nicht kennen. Ein Phänomen, das sich in den letzten Jahren zwar merklich abschwächt, aber nichts destotrotz noch immer weit verbreitet ist – habe ich mir von russlandkundiger Seite sagen lassen: Die Russen, und zwar nicht nur die gebildeten Schichten, sondern gerade auch die breite Bevölkerung, lieben Literatur, und vor allem lieben sie ihre Klassiker. In der U-Bahn auf dem Weg zur Arbeit Dostojewski lesen, oder während der Mittagspause in der Kantine ein paar Seiten Tolstoi schmökern – so etwas ist in Russland völlig normal. Wie würden wir staunen, sähen wir hierzulande einen Maurer neben Butterbrot und Thermosflasche Goethes „Werther“ auspacken oder die Reinemachefrau in Thomas Manns „Zauberberg“ vertieft.

Zurück zu den „Toten Seelen“ von Gogol und der gleichnamigen Komposition von Sergej Kolmanowski. Die beiden Werke haben natürlich miteinander zu tun. Das Musikstück wird bezeichnet als  „Humorsuite in 6 Sätzen für Balalaika und Sinfonieorchester nach dem gleichnamigen Roman von Nikolai Gogol“. Tote Seelen und Humorsuite - die Worte lösen spontan gegensätzliche Assoziationen aus. Aber die Sache hat durchaus ihre Ordnung: Gogols Roman ist ein Schelmenroman. Ein zwar unvollendeter, aber doch grandioser, in dem die satirische Meisterschaft des Autors sich auf herrliche Weise entfaltet.

Der Titel „Tote Seelen“ bezieht sich auf  Leibeigene („Seelen“), die ein geschäftstüchtiger Typ Namens Pawel Iwanowitsch Tschitschikow den Gutsbsitzern irgendwo in der russischen Provinz abkauft. Das besondere an diesen Leibeigenen ist: die sind schon tot – werden aber nach damaligem russischen Recht bis zur nächsten Bilanzrevision noch als lebend geführt. D.h. der Herr Tschitschikow kauft fiktive Werte zusammen, um was damit zu tun? Sie anderwärts gegen harte Rubel zu verpfänden. Eine finanztechnische Luftnummer. Die Methode kommt einem gerade wieder ziemlich bekannt vor. Um derartige Wind-Geschäfte ins Werk setzen zu können, muss Pawel Iwanowitsch erstmal das Vertrauen seiner Mitmenschen, insbesondere der örtlichen Beamten erringen. Wie macht er das? Er spielt den wohlhabenden, sachkundigen,  tüchtigen Mann von Welt – mit Geld das er gar nicht hat und vioel schönem Schein. Auch das kommt einem ziemlich bekannt vor.

Davon handelt der Roman, für den Gogol ein umwerfendes Personen-Panoptikum aufbietet. Und diese skurrilen Typen haben es nun dem Komponisten Sergej Kolmanowski sichtlich angetan. Seine Komposition weist seltsame Satzbezeichnungen auf: Tschitschikow, Manilow, Pluschkin etc. Und sie ahnen schon: das sind alles Figuren aus dem Roman, und jeder Satz der Komposition fixiert eine dieser Figuren.

Wer Gogols Roman und sein Personal gut kennt, hat im Konzert das Vergnügen, zwischen literarischen und musikalischen Charakterskizzen zu vergleichen. Wer mit Gogol nicht vertraut ist, dem bleibt das nicht mindere Vergnügen, sich aus der Musik die eine oder andere skurrile Figur zusammenzufantasieren. Dabei ist folgendes interessant: Kolmanowski hat nicht versucht, Gogol mit nationaltypischer russischer Musik zu folgen, auch wenn die Verwendung der Balaleika als Soloinstrument das vermuten lassen könnte. Musikalisch werden die „Toten Seelen“ eher entrussifiziert, werden europäisiert, ja globalisiert. Sie behalten ihre von Gogol zugeschriebenen Eigenheiten, aber die Musik dazu macht deutlich: Menschliche  Skurrilität ist universell – weshalb in Kolmanovskis Werk schonmal augenzwinkernd Wiener Blut umherwalzert oder Santa Lucia aus der Balalaika schmalzt. Gogols Roman ist Satire, Kolmanowskis Musik ist es auch. Die sprichwörtliche „russische Seele“ besteht eben nicht nur aus den Extremen „schicksalstragische Melancholie“ vs. Kosakenfeuer, in ihr steckt zugleich eine ausgeprägter Sinn für skurrilen Humor, Satire, Groteske.

Musikalisch meint man bei Kolmanowski im zweiten Satz, die Balalaika mache ein Rundreise zu ihren instrumentalen Geschwistern weltweit: Zur Gondoliere-Mandoline in Venedig, zum Banjo in Amerika oder zur asiatischen Domra. Später machen sich Momente von Jazz,  von Swing, von Filmmusik der 50er- und 60er-Jahre breit. Dann wieder kommen Erinnerungen auf an humorige Passagen aus Bernsteins Westside-Story oder Schlittengebimmel und Glockenschläge aus „Doktor Schiwago“.  Gogol hätte wahrscheinlich einen rechten Spaß gehabt an dieser musikalischen Transskription seiner russischen Groteske in eine Weltkulturfassung.      

Zu sprechen wäre jetzt noch über einen Block von Bearbeitungen russischer Volkslieder von Budaschkin und Shalov, die im zweiten Konzertteil vor Rimski-Korsakow dran sind. Ich will das jetzt aber auslassen und verweise diesbezüglich als Pausenlektüre auf das wieder sehr schöne Programmheft meiner Kollegin Insa Bernds. Stattdessen  möchte ich, da wir es ja heute vielfach mit Bezügen zur russischen Volksmusik zu tun haben, Ihr Augenmerk auf ein definitorisches Problem  lenken. 

Wir bewegen uns nämlich, meine Damen und Herrn, mit dem Begriff Volksmusik sowohl auf dünnem wie auf glattem Eis. Was bedeutet das: russische Volksmusik? Was überhaupt ist Volksmusik? Betrachtet man den landläufigen Gebrauch des Wortes hier in Deutschland, so ist das eine sehr diffuse Angelegenheit – zumindest seit „Volksmusik“ nicht mehr nur die überlieferten Musiziertraditionen regionaler, berufsständischer und/oder ethnischer Volksgruppen bezeichnet. Woran denken wir im Zeitalter der elektronischen Medien beim Wort „Volksmusik“ zurerst? An den „Musikantenstadel“, die Schlagerparade der Volksmusik, an Stefanie Hertel, Hansi Hinterseer und andere Vertreter der Klatsch- und Schunkelmusik in Dirndl und Lederhosen.

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Es fällt mir nicht ein, gegen Volksmusik generell zu polemisieren. Wofür ich jedoch eine Lanze breche, ist: Sauber zu trennen zwischen
-    einerseits jener  Volksmusik, die sich über Jahrhunderte als echter  klingender Ausdruck überwiegend regionaler Volkskulturen entwickelt hat,
-    und andererseits der vermeintlichen Volksmusik, die im Radio, im Fernsehen oder in den Oktoberfestzelten heutzutage serviert wird. Textlich, musikalisch und von ihrem Sinn her haben diese beiden Formen nämlich fast gar nichts mehr miteinander zu tun.
Versuche Sie mal bei so einer typischen Hitparade der Volksmusik im Fernsehen eine Unterscheidung zwischen Blasmusik aus Böhmen, dem Schwarzwald und dem Ruhrgebiet zu treffen. Vom Hören her ist es schier unmöglich. Genauso bei den Liedern: Was da an Herzschmerz-Gesängen aus den Lautsprechern tönt sind gesamtdeutsche Schlager im modisch aufgehübschten Gewand der Volkstümlichkeit. Rhythmik und Harmonik folgen dem James-Last-Prinzip. Was bedeutet: Es gibt keinerlei Probleme mehr, beispielsweise die Melodie des „Ännchens Tharau“ und die Melodie des  Beatles-Titels „Yellow Submarine“ aufs selbe simple rhythmisch-harmonische Fundament zu stellen.

Mit viel Glück lassen sich im volkstümelnden Deutschpop gelegentlich so eben noch ein paar magere Restelemente finden, die eine vage Unterscheidung der Musiken wenigstens nach den Kategorien alpenmäßiger Zuschnitt oder küstenmäßiger Zuschnitt erlauben. Mit der regional kleinteiligen Vielfalt der eigentlichen Volksmusik und ihrer Bindung ans alltägliche Leben des Volkes hat das aber längst nichts mehr zu tun.

Das Phänomen der Entregionalisierung und Verpoppung der Volksmusik ist nicht auf den deutschsprachigen Kulturraum beschränkt. Es ist ein globales Phänomen. Vor allem, was die rhythmischen Strukturen angeht (die Texte übrigens auch), hat sich über alle Kulturräume hinweg eine globale poppige Einheitssoße der Musik bemächtigt. Wenn sie  heute populäre Volksmusik-Hitparaden beispielsweise aus der Türkei hören, begegnen sie zwar auf der Melodieebene noch immer dem Tonmaterial der  Arabischen Tonleiter. Schon die Rhythmusgruppen indes könnten problemlos ihre Plätze mit den Kollegen in London, Moskau oder New York tauschen und doch genau dasselbe spielen. So auch leider mein heißgeliebter Irish-Folk, der sich in den zurückliegenden 20 Jahren auf breiter Front in banal und beliebig daherdudelnden Irish-Pop verwandelt hat.       

Mit dieser Art Volksmusik haben wir es im heutigen Konzert  selbstredend nicht zu tun. Aber auch der Rückgriff auf echte russische Volkskultur kommt nicht ganz ohne Fragezeichen aus. Was bedeutet „russische Volksmusik“ – wo Russland sich doch über ein Gebiet erstreckt, das vier mal so groß ist wie die ganze Europäische Union und von rund 100 teils völlig verschiedene Ethnien bevölkert wird? Stellen Sie sich vor, ein Amerikaner, Australier oder Chinese würde unsereins bitten, ihm das Wesen europäischer Volksmusik zu erklären. Die Bitte ernstgenommen, hätten wir ein ziemliches Problem. Von Pontius bis Pilatus würde die Erklärung sich ausdehen, müsste über portugiesischen Fado,  spanischen Flamenco, irischen Folk, norddeutsche Shantys,  bretonische Hirtengesänge, korsische Paghella oder alpine Bauernharmonik mit Zitter   philosophieren. Kurzum: Es gibt keine echte europäische Volksmusik, es gibt nur allerhand Volksmusiken in Europa.

Und es gibt auch keinen vernünftigen Grund, anzunehmen, Europa sei die einzige Weltgegend mit einer solchen kulturellen Vielfalt. Schon gar nicht wenn sie sich den Vielvölkerstaat Russland vor Augen führen, in dessen Grenzen Turkvölker, finno-ugrische Völker, kaukasische Völker, mandschurische Völker, Slawen, Mongolen leben, nebst einer ganzen Menge Stämme, die von ihrer Geschichte und traditionellen Lebensweise her gar keiner übergeordneten Sprach- oder Kulturgruppe angehören. Will sagen: Was wir heute, auch im Hinblick auf unser Konzert, unter  russischer Volksmusik verstehen, entstammt tatsächlich nur einem spezifischen Segment der Volksmusiken in Russland, allerdings einem dominanten. Nämlich dem der Russen, in vorsowjetischer Zeit Großrussen genannt. Diese der ostslawischen Sprach- und Kulturfamilie zugehörige Volksgruppe ist heute mit 116 Millionen die größte Russlands, aber eben nicht die einzige. 

Lassen Sie mich zum Abschluss noch ein paar Worte über das Instrument sagen, das im Konzert gleich die Soloposition einnimmt: die Balalaika. Auffällig an ihr ist der typisch dreieckige Klangkörper und das im Vergleich zu den meisten anderen Verwandten der Zupfinstrumente-Familie recht kurze Griffbrett. Die Balalaika hat in der Regel nur drei Saiten, von denen obendrein zwei identisch gestimmt sind. Man könnte daraus auf  eingeschränkte Ausdrucksmöglichkeiten dieses Instrumentes schließen.  Aber unser Solist Alexander Paperny wird Ihnen gleich demonstrieren, welche Spannbreite des Ausdrucks ein Meister der Balalaika entlocken kann. Nicht umsonst wird sie in Russland keineswegs bloß als Folklore-Instrument betrachtet, sondern an vielen russischen Musikhochschulen gleichwertig neben dem klassischen Instrumentarium studiert.

Die Balalaika gilt gemeinhin als Archetyp des russischen Volksmusikinstrumentes. Die Sache hat allerdings einen Haken: Die Balalaika ist so wenig russischen Ursprungs wie die Gitarre spanischen. Spaniens vermeintliches Nationalinstrument stammt vermutlich aus Babylonien, also aus dem Irak. Und die Balalaika wurde während der Expansionszüge unter Dschingis Khan von den Mongolen aus Zentralasien nach Russland importiert.

Der Immigrant sah damals noch etwas anders aus, hatte vor allem statt des  Dreiecks-Korpus noch einen runden oder ovalen Klangkörper.  Es wurde das Instrument der Gaukler und wandernden Barden, die damit ihrem Publikum manch frivoles Lied sangen und dabei häufig mit Spott auf die Obrigkeit nicht sparten. Weshalb die Früh-Balalaika im 17. Jahrhundert von Zar Alexei verboten wurde. Die Instrumente wurden quer durchs Zarenreich eingesammelt und verbrannt; wer dennoch eines behielt oder gar spielte, dem drohten Prügel, Geldstrafen, Kerker.

Der Legende nach begannen deshalb widerspenstige Musikanten in der Folgezeit Instrumente mit dreieckigem Korpus zu bauen, um derart das für die rundbäuchigen Vorgänger ausgesprochene Zaren-Verbot zu unterlaufen. Die eigentliche Balalaika war geboren – als bauernschlauer Akt des Widerstandes gegen die Obrigkeit. Sowas macht mir natürlich Spaß.

Das war's von dieser Stelle für heute. Wie immer der Hinweis: Den Vortrag können Sie von morgen Mittag an nachlesen in meinem Internet-Dienst www.pecht.info. Und nun viel Freude beim Konzert.                                                                         Andreas Pecht




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