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2009-05-05 Essay:

Zum 60. Geburtstag des Grundgesetzes
 

Deutschlands guter Geist:
die Verfassung

 
ape. In Papierform ist es nur eine kleine Broschüre. Aber kein Druckwerk hat das Zusammenleben hierzulande über 60 Jahre so nachhaltig geprägt wie dieses: das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Am 23. Mai 1949 in Kraft getreten, konstituierte es eine demokratische Ordnung, in welcher der Staat Garant wie Organ einer Gemeinschaft freier und gleichberechtigter Bürger ist.

In zwei Stunden hat man das Grundgesetz durchgelesen. Nach hinten wird die Lektüre etwas mühselig. Dort ist von Aufbau und Aufgaben der Bundesorgane die Rede, ihren Beziehungen zu den Bundesländern. Da werden die Struktur der Justiz oder die Ordnung des staatlichen Finanzwesens definiert. Trockener Lesestoff das, auch sprachlich, hauptsächlich Formalien und bürokratisches Kleinklein. Scheinbar! Beim zweiten Hinschauen offenbart sich dann selbst dem politisch-juristischen Laien die Brisanz für das Funktionieren einer auf Freiheit und Rechtsstaatlichkeit gegründeten Demokratie.

Ganz anders der erste Teil, die Präambel und die Grundrechtsartikel 1 bis 19. In überwiegend schlichter Klarheit wird darin eindrücklich formuliert, wess' Geistes Kind diese Republik ist. „..., von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben“. Dessen Artikel 1 lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Im selben Artikel folgt die Verpflichtung auf die Menschenrechte sowie die Erklärung, dass die  Grundrechte allesamt „als unmittelbar geltendes Recht“ bindend sind für Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung. Damit stellten die 61 „Verfassungsväter“ und vier -mütter des Parlamentarischen Rates – der auf Basis westalliierter Empfehlungen und der Beschlüsse der Koblenzer Rittersturzkonferenz 1948/49 das Grundgesetz erarbeitete - gleich vorneweg klar:  Hier wird nicht geduldiges Papier mit hehrer, aber unverbindlicher Staatsphilosophie gefüllt wie bei der Weimarer Verfassung, vielmehr werden verpflichtende, praktisch umzusetzende Maximen für alle drei Säulen staatlicher Gewalt aufgestellt.

Dieser Erhebung der Grundrechte zu „unmittelbar geltendem Recht“ ist es zu danken, dass sie als schützenswertes und förderpflichtiges Gut im politischen, juristischen und gesellschaftlichen Alltag behandelt werden. Gleichheit aller vor dem Gesetz, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Glaubens- und Gewissensfreiheit, Meinungs-,  Presse- und Kunstfreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit inklusive des Verbotes von Maßnahmen gegen Arbeitskämpfe, Asylrecht, Unverletztlichkeit der Wohnung … - die Verfassungseltern wollten all dies als verbindlichen Leitfaden des Handelns verstanden wissen. Dass es damit in der Realität doch an vielen Ecken und Enden hapert, ist kein Manko der Verfassung; es ist schlechte Politik und/oder gesellschaftliche Duldsamkeit.  

Zwar wurde das Grundgesetz bei der Verabschiedung 1949 ebenso als Provisorium betrachtet wie die in den westlichen Besatzungszonen gegründete Bundesrepublik selbst. Beide standen unter Vorbehalt der seinerzeit noch für die nahe Zukunft erhofften Wiedervereinigung Deutschlands. Die ließ bekanntlich dann doch vier Jahrzehnte auf sich warten. Und 1990 beim Beitritt der DDR spielte der damalige Vorbehalt keine Rolle mehr: Anders als 1949 von den parlamentarischen Räten noch gedacht, erhielt das neue Gesamtdeutschland keine neue Verfassung.

Das „Provisorium“ indes hat sich über die Jahrzehnte tief ins kollektive Bewusstsein eingegraben, ist wesentlicher Bestandteil bürgerschaftlichen Selbstverständnisses in Deutschland geworden.  Viele der großen politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in Westdeutschland wurden – juristisch mal mehr, mal weniger berechtigt -  mit dem Grundgesetz als geistigem Rüstzeug in der Hand ausgetragen: Der Streit um Wiederbewaffnung und Nato-Beitritt, um Notstandsgesetze, um die Spiegel-Affäre, um die Reform des Schwulen-Paragrafen 175, um Frauenemanzipation, um die Änderung des Abtreibungsparagrafen 218. Im Ringen um betriebliche Mitbestimmung, Betriebsverfassungsgesetz und Kündigungsschutzgesetz berief man sich aufs Grundgesetz, beim Protest gegen den Nato-Doppelbeschluss, gegen den Ausbau der Kernkraft, gegen die Volkszählung.

Gegner des Kosovo-Einsatzes der Bundeswehr führten, vergeblich, das Verfassungsverbot eines deutschen Angriffskrieges ins Feld. Und nicht erst seit den Terroranschlägen 2001 in New York, wird ein ums andere Mal das Verfassungsgericht bemüht, um fortschreitender Aushöhlung der Grundrechte durch überschießende Sicherheitspolitik Einhalt zu gebieten. Die Empörung über jüngste Schnüffel- und Spitzelpraktiken in diversen deutschen Unternehmen speist sich auch daraus, dass hier grundgesetzlich garantierte Persönlichkeitsrechte mit Füßen getreten werden.

Selbst die allgemeine Erwartung, dass infolge der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise Manager, Banken, Börsen, Konzerne verstärkt unter Kuratel gestellt werden, findet Ansporn nicht zuletzt in der Verfassung. In Artikel 14 ist die viel zitierte Sozialbindung des Kapitals festgelegt: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Am Rande sei vermerkt: Das Grundgesetz selbst legt sich nicht ausdrücklich auf ein bestimmtes Wirtschaftssystem fest; wie überhaupt während der ersten Nachkriegsjahre in Deutschland Demokratie und Kapitalismus bis weit in die bürgerlichen Parteien hinein keineswegs als quasi natürliche Geschwister betrachtet wurden. 

Nichts Menschliches ist für die Ewigkeit, auch unser Grundgesetz nicht. Aber es ist die beste Verfassung, die es in Deutschland je gab – mag sich der eine oder andere auch Verbesserungen wünschen, etwa die Stärkung von Volksentscheiden. Sie hat über die Jahrzehnte dazu beigetragen, blindes Untertanentum in der Bevölkerung zurückzudrängen. Sie hat maßgeblich dafür gesorgt, ein recht ordentliches Quantum freiheitlichen Geistes in diesem Land zu verankern. Aus bedrucktem Papier sind Haltung und Selbstbewusstsein - auch gegenüber dem Staat - erwachsen, wie sie sich für eine Republik gehören. Nicht immer, nicht überall, nicht bei jedem. Aber doch in einem Ausmaß, dass Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft, Religion, Hautfarbe, Überzeugung, Lebensart gewöhnlich ohne Mord und Totschlag miteinander auskommen.

Das war in der Menschheitsgeschichte die Ausnahme, kann auch für Gegenwart und Zukunft leider  keineswegs als selbstverständlich angenommen werden. Weshalb das Grundgesetz des demokratischen Deutschlands auch nach 60 Jahren längst nicht überholt ist. Stattdessen bedarf es mehr denn je der Besinnung auf seinen ursprünglichen Geist – und des kritisch-wachsamen Blickes  der obersten Richter wie der Bürger auf jedwedes Ansinnen zur Änderung „ihrer“ Verfassung.    
                                                                                        Andreas Pecht

(Erstabdruck Woche 21 im Mai 2009)

60 jahre Verfassung BRD, guter Geist der Republik, Essay
 
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