Thema Wissenschaft / Zeitgeschichte
Thema Menschen / Initiativen
homezur Startseite eMail an Autor • eMail to author • contact auteureMail an den Autor Seitenübersicht • sitemap • Plan du siteÜbersicht sitemap Seite drucken • site print • imprimer siteArtikel drucken

2009-03-18 Feature:

Edition „Akten der Reichskanzlei. Regierung Hitler. Band V: 1938“ und ihr Bearbeiter in Koblenz

 

Am Vorabend des großen Krieges

 
ape. Diese Buch-Reihe hat keine Chance auf Bestseller-Platzierungen. Und doch wird sie noch Leser finden, wenn sich an derzeitige Verkaufshits längst niemand mehr erinnert: „Akten der Reichskanzlei. Die Regierung Hitler 1933-1945“ ist ein editorisches Projekt, das auf Langzeitwirkung abzielt. Unlängst erschien Band V über 1938. Drei Jahre hat Friedrich Hartmannsgruber in einem Koblenzer Büro für dieses Buch papierene Zeugnisse der Staatsgeschäfte unter der Führer-Regierung gesichtet, ausgewertet, ausgewählt, kommentiert. Ergebnis: 1200 Seiten amtliche Dokumente nebst Kommentaren über den Umbau Deutschlands zur Kriegs- und Menschenvernichtungsmaschine.

Ortstermin in Koblenz. Hauptsitz Bundesarchiv -  oberste Behörde der Bundesrepublik Deutschland  zur Sicherung, Auswertung, Nutzbarmachung der „Überlieferung zentraler Organe“ der BRD, der DDR, des Deutschen Reiches und des Deutschen Bundes. In einem kleinem Büro des weitläufigen Komplexes treffen wir Friedrich Hartmannsgruber. Ein Bayer, man hört's. Was treibt ihn in die ehemals preußische Rheinprovinz? Die Edition Akten der Reichskanzlei ist ein Gemeinschaftsprojekt der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und des Bundesarchivs. Hartmannsgruber kriegt als Angestellter der Akademie sein Gehalt aus München, ist aber aus naheliegendem Grund zum Dienst nach Koblenz delegiert: Die Originale der Akten, um die es bei seiner Arbeit geht, liegen nun mal im Magazin hoch überm Rhein-Mosel-Eck und nicht an der Isar.

Einige dieser Akten stapeln sich auf einem Beistelltisch. Blaue Kartonmappen, wie sie in jeder Gemeindeverwaltung benutzt werden. Der blattweise säuberlich mit Aktenzeichen versehene Inhalt ist freilich von ganz anderer Tragweite: Mit Schreibemaschine aufs Papier gehackte oder handschriftlich, oft in Sütterlin, entworfene Erlasse, Verordnungen, Gesetze schrieben Weltgeschichte.  Der Beginn des Zweiten Weltkriegs wird gemeinhin auf den 1. September 1939 datiert. Angesichts der Dokumente kommt Hartmannsgruber allerdings zu dem Ergebnis, dass das Jahr zuvor, 1938, „nur insofern noch ein Friedensjahr war, als noch nicht scharf geschossen wurde“.

Deutschland wird kriegstauglich

Durch die im Band V. der Edition versammelten Aktentexte zieht sich wie ein roter Faden das Bemühen der Reichsführung, Deutschland auf allen Ebenen dem Krieg dienstbar zu machen. Hunderttausende Arbeiter wurden zum Bau des Westwalls zwangsverpflichtet.  Die Rüstungsausgaben explodierten gegenüber dem Vorjahr noch einmal um 60 Prozent – und trieben das Reich an den Rand des finanziellen Ruins. Weshalb die Hitler-Regierung brachial neue Geldquellen erschloss: Enteignung jüdischen Besitzes; Erhöhung der Körperschaftssteuer; Kürzung der Finanzzuweisungen an die Kommunen und Kreditsperre für diese; überstürzte Auflage neuer Reichsanleihen, die beim Publikum kein Renner mehr  waren...

Wir blättern vorsichtig in den Originalen, stoßen auf einen Erlass-Entwurf, mit Bleistift hingeworfen von General Keitel am 3. Februar 1938, die abgetippte Fassung von Reichsminister Hans-Heinrich Lammers mit Anmerkungen versehen. Gegenstand der äußerlich ganz unscheinbaren Papiere: Sie machen die Übernahme des Oberbefehls über die Wehrmacht durch Adolf Hitler persönlich am 4. Februar 1938 zum staatlichen Offizialakt. Der Führer hatte seiner Umgebung mitgeteilt, dass es so zu sein habe. Die Paladine beeilten sich, dem Befehlszuruf des Diktators einerseits den Anstrich eines staatspolitisch ordentlichen Vorgangs zu verpassen, ihn andererseits den übrigen  Instanzen im NS-Staat zu verkünden.

Dies Beispiel verdeutlicht ein Problem, das die vorausgegangene Edition Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik in dieser Art nicht kannte: 1963 begonnen, 1990 im Umfang von 23 Bänden abgeschlossen (und inzwischen online gestellt), konnten sich die Bearbeiter im Kern auf die Protokolle der Weimarer Reichskabinette von Philipp Scheidemann 1919 bis Kurt von Schleicher 1932/33 stützen. Anders im NS-Führerstaat, in dem der Ministerrat immer seltener, ab 1937 fast gar nicht mehr zusammentrat. Nach dem Prinzip „Führer befiehl, wir folgen dir“ gab es nichts mehr zu diskutieren. Die Reichskanzlei mutierte zu einer Institution für die Übermittlung von Führerbefehlen, sowie für die Abstimmung der nun oft eigenständig agierenden Ministerien und anderen Machtzentren im Land.

Eine schwierige Aktenlage

Denn die Willkürherrschaft hatte ein, nicht selten chaotisches, Nebeneinander staatlicher, halbstaatlicher und parteilicher Entscheidungs-, Kommando- und Exekutivstrukturen mit sich gebracht. „Deshalb verfahren wir“, so Hartmannsgruber, „bei der Edition ,Regierung Hitler' nach einem anderen Konzept als im Falle Weimarer Republik.“ Um die oft diffusen Verzweigungen von Regierungshandeln im NS-Staat einigermaßen greifbar zu machen, mussten zusätzlich zu rund 3000 Aktenbänden der Reichskanzlei etwa 4500 Bände aus anderen Bereichen in die Auswertung einfließen.

Der Bayer betreut die Edition Akten der Reichkanzlei, Regierung Hitler 1933 – 1945 (Oldenburg-Verlag, 99.80 Euro) seit 1989 im Ein-Mann-Betrieb. „Die ersten fünf Jahre habe ich nur Akten gelesen.“ Langweilig? „Nie, weil die Beschäftigung mit den unterschiedlichsten Politik- und Verwaltungsfeldern im Dritten Reich für Abwechslung sorgt.“ Drei Jahre Arbeit pro Jahresband, die Vorbereitung für Band VI über 1939 eben begonnen: Bis zum letzten Buch über 1945 könnten als noch 20 Jahre ins Land gehen. Für Hartmannsgruber ist das ein Lebenswerk. Ob er es selbst wird abschließen können, steht in den Sternen, denn er selbst erreicht 2016 das Pensionsalter – bis dahin dürfte die Edition bei 1940 angekommen sein.

Und das alles für eine Buch-Reihe mit einer Auflage von 1000 Stück pro Band. „Die Erschließung und Zugänglichmachung dieses Aktenbestandes mittels einer kritischen Edition ist nunmal Grundlagenforschung“, erklärt der Bayer im Koblenzer Büro. Und Generationen nachfolgender Studenten, Historiker, Forscher werden aus der Präsenz der Bände in einigen Hundert Bibliotheken Nutzen ziehen - bei der weiteren Erhellung und Bewertung des düstersten Kapitels deutscher Geschichte. 
                                                                                       Andreas Pecht


(Erstabdruck April/Mai 2009)
 
Diesen Artikel weiterempfehlen was ist Ihnen dieser Artikel
und www.pecht.info wert?
 
eMail an Autor • eMail to author • contact auteureMail an den Autor
eMail an webmaster • eMail to webmaster • contact webmastereMail an webmaster Seitenanfang • go top • aller en-hautan den Anfang Seite drucken • site print • imprimer siteArtikel drucken