Kolumne »Guten Tag allerseits«
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Geschrieben im Dezember 2008
Guten Tag allerseits,
22.12.
so, verehrte Leserschaft, das war's für das Jahr 2008 von meiner Seite. Ich nehme nun für ein paar Tage den Artikel 24 der UN-Menschenrechtskonvention in Anspruch, in dem es heißt:  "Jeder hat das Recht auf Erholung und Freizeit und insbesondere auf eine vernünftige Begrenzung der Arbeitszeit ...""

Bevor gleich die Maschinen abgeschaltet werden, habe ich noch etwas Lesestoff eingestellt für den Fall der Feiertagslangeweile. Das sind, neben einer Besprechung des jüngsten Konzerts beim Koblenzer Musik-Institut, die zeitlich etwas vorgezogene Monatskolumne 2008-12-22  Quergedanken und ein recht langer Aufsatz, den ich Ihnen besonders ans Herz legen möchte:

2008-12-22a Essay:  Suche nach einer Bürgerlichkeit für das 21. Jahrhundert

Zu diesem Essay eine kleine Vorbemerkung. Es ist schon etwas älteren Datums, entstand im Frühjahr/Sommer 2007. Damals war weder von Hungerrevolten noch Finanzkrise die Rede; die explosionsartige Zuspitzung sämtlicher großer Gegenwartsprobleme war zwar erwartbar, aber eben noch nicht eingetreten. So geht dieses Essay von heute aus gesehen fast zeitlos-gemächlich einigen grundlegenden Fragen bürgerlichen Selbstverständnisses eher ideeller Art nach, wie sie sich auf Basis der soziologischen Entwicklung vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts angeboten haben.

In diesem Zusammenhang  hat das Essay aber auch eine zentrale Schwäche, kritisierten einige Freunde aus dem linken Spektrum bereits mit Recht: Meine Ausführungen verharren auf dem Stand der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft", blenden die faktische Aushebelung der sozialen Marktwirtschaft durch den "Turbokapitalismus" seit den späten 1980er-Jahren ebenso aus wie die damit verbundene tendezielle Entwicklung einer Zweiklassengesellschaft von sicherem "Oben" und unsicherem bis prekärem "Unten".

Da wäre bei Gelegenheit kräftig nachzuarbeiten. Trotzdem bietet das Essay selbst in der vorliegenden Form m.E. einige schöne Denkanstöße im Hinblick auf den stattgehabten deutschen  Bürgerlichkeits-Diskurs der Jahre 2004 bis 2007. Bietet vielleicht auch einige Anregungen, anhaltend grassierende Selbst- und Missverständnisse vom Bürgerlichen kritisch zu hinterfragen.

Wünsche nun allseits geruhsame Feiertage und
einen sinnenfrohen Jahreswechsel nach der Devise:
Von ein bisschen Kapitalismuskrise geht die Welt nicht unter.

  
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8.12.
Es stand als eine der letzten Aufgaben vor den Feiertagen noch ein längerer Artikel über Helmut Schmidt anlässlich seines 90. Geburtstages am 23.12. auf meinem Arbeitsplan. Doch angesichts der Flut von würdigenden Publikationen allüberall erspare ich mir das. Festgehalten sei nur diese Notiz aus meinem Merkzettel-Haufen:

Was ist an diesem H. Schmidt, dass er Jahrzehnte nach Ende seiner Kanzlerschaft und jenseits seiner damaligen politischen Leistungen (auch Ärgernisse: s. Nachrüstung, s. Öko-Ignoranz) zum Gegenstand allgemeiner Verehrung avisiert? Unangepasstheit, Kantigkeit, Unverwechselbarkeit, Gescheitheit, Weitsichtigkeit, Klarheit, Entschlossenheit, Unbestechlichkeit, Weltläufigkeit, Bodenständigkeit...  Kurzum: Er erscheint als das schiere Gegenteil des heutigen Politiker-Typus und wird damit zum Sehnsucht auf sich ziehender Fels inmitten einer überwiegend eintönigen Wüste aus bunt gefärbtem Treibsand. Seine wichtigsten Beiträge in den letzten Jahren: Geißelung von Kosovo- und Irak-Intervention als völkerrechtswidrig; Plädoyer (schon vor zehn Jahren), den Turbokapitalismus mit einem globalen Rahmen-Reglement unter Kuratel zu stellen; Knurren, Beißen, Rauchen und Auflaufenlassen der nach Intimitäten gierenden "Kollegenschaft" aus der medialen Schwätzersparte.     
 
14.12.
Eigentlich ist es ein ganz einfacher und naheliegender Gedanke: Wenn Konjunkturprogramme zur Abfederung des kapitalistischen Kriseneinbruchs, dann bitte so, dass auch noch die nachfolgende Generation etwas bekommt für ihr Geld, das wir jetzt ausgeben. Nach den vagen Informationen, die bislang vorliegen, geht das von Obama für die USA geplante Konjunkturpaket einigermaßen in diese Richtung. Danach soll die gesamte amerikanische Infrastruktur aufgemöbelt werden: Schulen, Verkehrswege, Strom-, Wasser- und Kommunikationsnetze; eben alles, was dort bekanntermaßen reichlich verludert ist und ohnehin irgendwann in Angriff genommen werden müsste. Wenn, wie angekündigt, diese Generalüberholung obendrein tatsächlich unter die Maßgabe einer stark ökologischen Ausrichtung gestellt wird, könnte die Krise womöglich noch ihr Gutes auch für die Nachgeborenen haben.

Konjunkturprogramm also als positive, Zukunft gestaltende  Kehrtwende in den USA. In Deutschland hingegen eher als negative Kehrtwende zurück zum Primat des umweltblinden Industrialismus. Hauptsache der Wirtschaftszug rollt irgendwie weiter, gleichgültig wohin, und sei's gegen die nächste Wand. Mit dem Scheinargument "Arbeitsplätze gehen vor" wird das Wirtschaften von gestern gestützt, statt wuchtig in Arbeitsplätze für morgen zu investieren. ZB. Geld, das jetzt in die deutsche Automobilindustrie respektive die Subventierung des Autokaufes gesteckt wird, ohne mit Nachdruck Impulse für eine ökologische Umorientierung der deutschen Autoprodukte zu setzen, ist rausgeschmissenes Geld. Auch für Deutschland gilt: Wenn das Konjunkturpaket Leistungen motiviert, die Bestand und Nutzen auch für unsere Kinder haben, dann darf es durchaus etwas größer sein. Unqualifizierte Konsumankurbelung erfüllt diese Bedingung so wenig wie das jetzt hysterische Abrücken von Klimaschutzzielen.

11.12.
Die vergangene Woche verkündete Aussetzung der Streikaktionen im Tarifkampf der deutschen Orchester ist von der Deutschen Orchestervereinigung (DOV) gestern wieder aufgehoben worden. Als Grund wird ein "untaugliches" Angebot der Arbeitgeberseite genannt. Untauglich vor allem wohl deshalb, weil es sich hinsichtlich der seit 2005 zur Verhandlung stehenden Kernforderung der Musiker - "Keine Abkopplung der Orchester vom Öffentlichen Dienst" - einmal mehr nicht bewegt hat. Man darf deshalb getrost davon ausgehen, dass es den Arbeitgebern (Kommunen und Ländern vertreten durch den Deutschen Bühnenverein) nicht zuletzt darum zu tun ist, die traditionell starke Stellung der Orchester bei der Vertretung ihrer sozialen Interessen auszuhebeln.

Natürlich kommt die Zuspitzung dieses Tarifkampfes zur Unzeit, weil in einer Wirtschaftskrise. Dafür können die Musiker nichts: Nach ihnen hätte die Sache schon im vergangenen oder vorvergangenen Jahr geregelt sein können. Außerdem: Folgte man der Sichtweise von Arbeitgebern, kommt jedweder Tarifkampf immer und überall zur Unzeit - mal den Aufschwung gefährdend, mal die Krise verschärfend. In die jüngsten Lohnrunden gingen beispielsweise die Metaller mit vergleichsweise hohen Forderungen, weil sie endlich auch ihren Anteil am  Wirtschaftsboom der vergangenen Jahre haben wollten. Dass der Profitwahn des Finanzkapitals die nächste allgemeine Wirtschaftsflaute überraschend vorfristig einläutete, dafür sind die Beschäftigten am allerwenigsten verantwortlich.

Aber ich wollte eine ganz andere Seite des Tarifkampfes der Orchester beleuchten. Diese Auseinandersetzung führt dazu, was selten genug vorkam in den letzten Jahrzehnten, dass das Publikum "seine Künstler" auch mal als gewöhnliche Lohnabhängige wahrnimmt, wahrnehmen muss. Den Gedanken zu denken, dass Kunst ohne hinreichend Brot den Künstler nicht nährt, tut den Kunstfreunden hin und wieder ganz gut. Wer Streik als unerlässliches und legitimes Instrument im Ringen um angemessene Bezahlung der Arbeitskraft begreift, kann auch in relativer Gelassenheit den Ausfall eines Konzerts oder einer Opernaufführung als quasi naturgesetzliche, höhere Gewalt hinnehmen.

Streik muss wirken, um etwas zu erreichen, das ist nunmal so - ob die Eisenbahn stillsteht, das neue Auto später geliefert wird, der Supermarkt für einen Tag geschlossen bleibt oder eben der Orchestergraben vorübergehend leer. Das mag einen als Betroffenen ärgern, vielleicht sogar ein paar Unannehmlichkeiten bereiten. Aber erstens geht es vorüber, zweitens das Abendland davon nicht unter und drittens sollte man sich immer die Frage vorhalten: Wo stünden wir heute, hätte es niemals Streiks gegeben?

Die Orchestermusiker seien sowieso die privilegierteste und bestbezahlte Gruppe im Volk der Bühnenakteure, wird gegen die jetzigen Kampfmaßnahmen eingewandt. Dass die Arbeitgeberseite so argumentiert ist naheliegend und nicht weiter von Interesse. Dass allerdings Sänger, Schauspieler, Tänzer teils Ähnliches vorbringen, muss ernst genommen werden. Denn in der Tat verdienen sie in der Breite oft deutlich weniger als die Orchestermusiker. Ein Dauerskandal schlechthin ist die Hungerentlohnung der körperlichen Schwerstarbeiter unter den Bühnenkünstlern, den Balletttänzern. Zumal die überhaupt nur bis Anfang/Mitte 30 ihren Beruf ausüben können. Danach müssen die meisten etwas ganz anderes von vorne anfangen - ohne dass sie je einen Cent hätten beiseite legen können.

Dennoch ist deren Frage, woher die Orchestermusiker das Recht nehmen, so viel mehr zu verdienen, eine völlig falsche. Richtig muss gefragt werden: Warum werden Tänzer, Schauspieler, Sänger so schlecht bezahlt? Ein Grund dafür ist uralt und ganz simpel: Die Orchester sind sehr große Kollektive und quasi von Berufsnatur daran gewöhnt, gemeinschaftlich zu agieren. Daher, von ihrer kollektiven (und auch gewerkschaftlichen) Durchsetzungskraft, rührt ihre traditionell starke soziale Stellung im Kunstbetrieb. Davon könnten sich die Bediensteten anderer Sparten eine Scheibe abschneiden: Künstlerischer Individualismus ist eine feine und unverzichtbare Sache, sollte aber beiseite gelegt werden, sobald das Stück "Lohnabhängig Beschäftigte treten für ihre Interessen ein" zur Aufführung kommt.

Wer soll das bezahlen?, jammert dann allweil die Arbeitgeberseite und findet in der Öffentlichkeit offene Ohren. In der Tat eine schwierige Frage. Aber um Himmels willen doch nicht beantwortbar damit, dass freiwillige Selbstausbeutung der Künstler im Dienste der Kunst wie selbstverständlich als tragende Säule des öffentlichen Kulturbetriebes akzeptiert wird. Und noch eines: Es sollte kein Sänger, Schauspieler oder Tänzer glauben, dass es ihm besser gehen werde, wenn es den Orchestern erst  schlechter geht. Das Gegenteil steht zu erwarten, denn die Tarifgeschichte hält eine eindeutige Lehre bereit: Sobald die stärksten Teile der Belegschaften schwächeln, wird das Lohngefüge als Ganzes auf die Rutschbahn getrieben.  
          

10.12.
"Alle Menschen sind frei und gleich
an Würde und Rechten geboren"

Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Die Konvention wurde heute vor 60 Jahren von der UNO-Generalversammlung in Paris beschlossen.
(Siehe dazu auch den Text2008-12-09 Kommentar )

02.12.

Selbstredend entscheidet sich am Ende alles erst wieder auf der Bühne. Aber der gestrige Auftritt des designierten Intendanten für das Stadttheater Koblenz vor der örtlichen Presse verspricht schon mal eine spannende Zeit des Wechsels und Wandels. Markus Dietze (derzeit noch Chef am Theater Altmark in Stendal und mit 36 Jahren einer der jüngsten Intendanten Deutschlands überhaupt) brachte sein gesamtes Leitungsteam und gleich schon den Spielplan für seine erste Saison am Rhein 2009/2010 mit zur Pressekonferenz. Die war, erstes Novum, szeneöffentlich: Orchestervertreter, Theaterfreundeskreis, Besucherorganisation etc. konnten verfolgten, wie Orts-Journaille und noch unbekannte  Theater-Crew sich beschnupperten.

Mein erster Eindruck von den Neuen: Da sitzen offenbar ein paar ebenso gescheite wie enthusiastische Theaternarren beisammen, denen Bühnenkunst mehr bedeutet als flirrendes Gewerbe. Obwohl das abgelatschte Wort "Projekt" nicht fällt, macht die sechsköpfige Mannschaft doch genau den Eindruck, als arbeite sie mit kollektiver Hingabe an eben einem solchen. Einem, von dem das Sextett scheinbar fest überzeugt ist, auch hiesiges Publikum in großer Zahl dafür interessieren zu können. Frei nach der Devise: Die Menschen sind Neugierige, zugänglich bis erpicht auch und gerade aufs Ungewohnte und Unbekannte - wenn es denn nur Qualität hat, interessant ist und gut gemacht.

Dass sich die kommende Intendanz dem Ensemble-Gedanken verschrieben hat, darf vorweg schon mal beklatscht werden. Dass das spitze Mitrechnen des Verwaltungsdirektors bei den Planungen gleich noch die sattsame Mär vom Tisch haut,  der Betrieb sei mit vielen Gastkünstlern bei kleiner Stammmannschaft preiswerter zu führen, wird meinerseits mit Befriedigung registriert. Mal wieder über Jahre gegen allerlei Andersbehauptungen richtig gelegen, Herr Oberlehrer Kritikus.

An Mut und Vertrauen in die - entflammbare - Offenheit des Publikums mangelt es Dietze und Co. nicht, das wird beim Blick auf den gemeinschaftlich entworfenen Spielplan deutlich. Die allseits bekannten Ohr-, Augen- und Hirnwürmer des Repertoires sind darin quer durch die Sparten deutlich in der Unterzahl. Werke des 20. Jahrhunderts dominieren,  und vier Uraufführungen innerhalb einer Spielzeit hat es an diesem Theater meines Wissens noch nie gegeben; jedenfalls nicht während der mehr als 20 Jahre, die ich das Haus schreibend begleite.

So lange musste es dauern, bis mir in Koblenz endlich mal ein Spielplan in die Hände kommt, der mehr als ein oder zwei Werke enthält, von denen ich noch nie gehört habe. Diesmal sind es von 20 Titeln gleich acht - und darüber freu ich mich wie ein Schneekönig. So viel Spannung war lange nicht, nichtmal während der drei Jahre des hochverehrten Georges Delnon. Ob's dann auch auf der Bühne klappt mit den Neuen, wird man sehen müssen. "Glück auf" sei jedenfalls gewünscht.



Wünsche anregende Lektüre,
Andreas Pecht