Kolumne »Guten Tag allerseits«
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2008-11
Guten Tag allerseits,
28.11.
Über die Terrorangriffe von Bombay etwas zu sagen, das jenseits von Entsetzen liegt, wage ich noch nicht. Zu unübersichtlich das alles. Eines nur: Die bisherigen Nachrichten lassen mich an einem Al-Kaida-Anschlag zweifeln; die Handschrift ist ganz anders.

***

Zu den schönen Dingen des Lebens, zur Dichtung. Ein Fund bei Peter von Matt, was das stets gespannte Verhältnis zwischen  politischer Macht und Kunst angeht:
"Was die Macht fürchtet, ist immer der fetzen Papier, auf dem ein paar Verse stehen. Ein  bisschen Zellulose also und etwas Tinte. Und doch ein Ereignis von hoher Gewalt. Eines der unheimlichsten Produkte der Zivilisationsgeschichte. Nicht einfach weil die Verse häufig frech sind, reizen sie die Macht, sondern weil sie die Eigenschaft haben, das solideste Herrschaftssystem zu überleben und durch ihre pure Existenz dessen Vergänglichkeit zu bezeugen.!"

25.11.
C
lement aus der SPD ausgetreten. Wow! Und nu? Nichts. Leider, muss man sagen. Denn die causa Clement böte die Möglichkeit, hätte sie schon vor Monaten geboten, dass die deutschen Sozialdemokraten mal über ihr Selbstverständnis nachdenken. Das ist nämlich lange nicht mehr wirklich geschehen: Ein Großteil der jüngeren SPD-Grundsatzbeschlüsse versucht Unvereinbares zu vereinbaren. Mit dem Ergebnis, dass die SPD sowohl Industrie- wie  Ökopartei sein soll, sowohl Wahrer sozialer Gemeinwohlverpflichtung als auch die beste Wirtschaftspartei des Landes, sowohl demokratischem Sozialismus verpflichtet als auch marktliberalen Maximen. Inbrünstig das Lied vom kleinen Manne singen, sich aber zugleich mit Verve dem Kapitalismus verschreiben, das passt nun mal nicht recht zusammen - weshalb die Parteilinien an der Mitgliedschaft zerren wie dereinst die zwei Weiber am Kinde im Kreidekreis.

Aber man will nicht ungerecht sein gegenüber heutigen Sozialdemokraten. Schließlich steht ihre Ambivalenz in einer langen Partei-Tradition. Die wurde begründet am 9. November 1918 mit dem hysterischen Ausbruch Friedrich Eberts gegen die Republik-Ausrufung durch Scheidemann: Scheidemann müsse, so zeterte Ebert, diesen Akt sofort widerrufen, denn er (Ebert) habe mit dem Kaiserhaus verabredet, dass der Kronprinz die Herrschaft übernehme.  (Und wen sah dieses geheime Arrangement als Reichskanzler vor? Friedrich Ebert, selbstredend).     

23.11.

Nicht oft, aber über die Jahre doch wiederholt, findet sich unter den Rückmeldungen auf meine Schreiberei folgende Kritik: Ich würde, politisch ziemlich unausgewogen, häufiger an der SPD herummäkeln als an der CDU. Dazu drei Punkte der Erwiderung:
1.
Das kommt davon, wenn beim zu Beurteilenden, in diesem Fall also der SPD, Anspruch und Wirklichkeit allzu oft getrennte Wege gehen.
2. 
Der zu Beurteilende hat nun mal das Pech, als Hoffnungsträger für eine bessere Zukunft zu gelten. Folglich hängt die Messlatte hoch und wiegen von ihm enttäuschte Erwartungen schwerer.
3.
Die Damen und Herren Sozialdemokraten sollten Wolfgang Koeppens Haltung im Hinblick auf unfreundliche Literaturkritiker eingedenk sein: "Er schreibt über mich, also bin ich."  

Koeppens Ausspruch ist mir eben wiederbegegnet bei der Lektüre des jüngst erschienenen Buches "Die Literatur eine Heimat" mit Reden über und von Marcel Reich-Ranicki. Daraus noch geschwind zwei weitere hübsche, bedenkenswerte Funde.

Michael Naumann sagte bei der Verleihung des Bad Homburger Hölderlin-Preises 2000 an MRR:
"Reich-Ranicki hat sich Hölderlin genauso genähert wie anderen Klassikern unserer Literatur: mit Respekt, aber ohne Ehrfurcht, mit Neugier, aber ohne Verneigung, mit Entdeckerlust, aber ohne die Bereitschaft, zu verherrlichen."

Ein Beispiel für diese Haltung gibt MRR in seiner Dankesrede bei selbigem Anlass, in der er die Vergötterung Hölderlins nebst seiner bisweilen von quasi-religiösem Sendungs- und Erlösunggeist getränkten Verse durch die an Poesie interessierte Nachwelt kritisiert:
"Ich kenne in der Geschichte der Weltliteratur keinen einzigen heiligen Dichter - und wenn es einen gegeben haben soll, dann hat er bestimmt nichts getaugt. Auch jene Juden, die vor Jahrtausenden allerlei Texte, grandiose und schwächere, verfasst und zusammengestellt haben, waren, jedenfalls bis zum Gegenbeweis, schuldhafte Literaten mit viel Fantasie und mit noch mehr Talent - sonst hätte sich ihre Anthologie, genannt die Bibel, nicht als Weltbestseller bewährt." 
 
22.11.
Während der Nacht fiel der erste Schnee dieses Jahres. Er hat, schaut man durchs Fenster ins ländliche Umfeld, einen für Samstagvormittag bemerkenswerte Ruhe gebracht. Gewiss sind allenfalls halb so viele Autos unterwegs wie sonst zu dieser Wochenzeit. Solche Atmosphäre lässt einem große Politik und Menschheitskrisen schon mal den Buckel runterrutschen. Am kleinen Leit-Kommentar heute in meiner regionalen Frühstückszeitung interessierte mich deshalb auch das Thema (Rede des Bundespräsidenten) nur am Rande. Mehr Freude machten mir stattdessen einige Worte, die der Kollege benutzte. Nicht gerade verschwundene, aber doch aus der allgemeinen Sprechmode gekommene oder eben kommende Worte.

Vom "Radau" der Tagespolitik ist da die Rede. Vom Entscheidenden, das Köhler ans Licht "hievt", ohne dass er sich in genereller Kapitalismuskritik "verheddert".  Köhler hat den Bankern die "Leviten gelesen" und "geißelt" ihre hochriskanten Spielereien. Gewiss ist das keine weltbewegend originelle Wortwahl, aber doch eine, die vom heutigen Normsprech abweicht und ältere Wendungen anführt, um deren Eigenheit zu nützen, Nuancen im Gemeinten auszudrücken. Köhler bringt nicht oder zerrt nicht ans Licht, er hievt - langsam, zäh, aber mit kontinuierlicher Kraft-Anspannung. Die Tagespolitik ist nicht einfach aufgeregt, laut und turbulent, sie macht stattdessen simpel, auch etwas primitiv, großmäulig und ziemlich rücksichtslos Radau.

Das Schöne an solchen Wendungen ist, dass sie allgemein im passiven Wortschatz NOCH abgelegt sind. Fast jeder weiß, was sie meinen. Und die meisten Zeitgenossen spüren unbewusst noch immer die Nuancen, die solche Wörter von ihren im aktiven Regelgebrauch befindlichen Nachbarn unterscheiden. Weshalb die schreibende Zunft sie auf keinen Fall leichtfertig aufgeben sollte. Immer wieder streichen vor allem Redakteure der jüngeren Generation ältere Wendungen aus meinen Artikeln mit der Begründung: So spricht kein Mensch mehr. Mag sein, aber das ist doch kein hinrichender Grund, auf mehr sagende Worte, deren Sinn durchaus noch verstanden wird oder verstanden werden kann, beim Schreiben freiwillig zu verzichten! Gleich gar nicht, wenn es um Publikationen im kulturellen Feld geht.     

21.11.
"Politiker werden dafür bezahlt, sich beschimpfen zu lassen", sagte mal irgendjemand irgendwo. Stimmt so zwar nicht, denn in der Hauptsache werden sie dafür bezahlt,  auskömmliches Zusammenleben vieler Menschen zu organisieren. Weil es sich da aber um ganz unterschiedliche Individuen handelt, kann Politik nie den Maximalinteressen Einzelner oder kleiner Gruppen gerecht werden, sondern sich stets nur um ein ideelles Durchschnittsinteresse bemühen: das Gemeinwohl. So wenigstens sollte es sein. Nun wird leider die Frage, was für das Gemeinwohl gut und richtig sei, je nach Standort (und Eigeninteresse) der Frager sehr unterschiedlich beantwortet. Beispielsweise: Wer sich ums tägliche Brot nicht sorgen muss, setzt andere Prioritäten als derjenige, der sich zeitlebens abmüht, auch  nur das Lebensnotwendige beizuschaffen. Wem Freiheit und Menschenwürde als oberstes Gut gilt, der gibt anderem Vorrang als der in erster Linie auf Sicherheit Bedachte.

So erscheint etwa Herrn Schäubles jüngstes Bemühen um eine Veränderung des Abstimmungsmodus im Bundesrat einem Teil der Öffentlichkeit als perfide Ranküne, sein "Sicherheitspaket" durch die Hintertür doch noch einzuführen. Einem anderen Teil der Öffentlichkeit kommt die jahrzehntelange Bundesrats-Praxis plötzlich unsinnig vor - gerde WEIL diese Schäubles Paket Steine in den Weg legt. Das ließe sich übrigens auch andersrum denken: Man stelle sich etwa vor, die Regierung hätte ein Gesetz zum Rückzug aller deutschen Truppen aus dem Ausland beschlossen (was sie nicht hat und nie wird), das im Bundesrat eine Mehrheit bekommen könnte, würden Enthaltungen nicht wie Nein-Stimmen wirken. In solchem Fall könnte nun unsereins geneigt sein, den Abstimmungsmodus im Bundesrat in Zweifel zu ziehen.

Das Dilemma auf die Finanzkrise übertragen: Fürs handelnde Personal - ob Banker oder Mehrheit der Politiker - ist sie (nur) Folge von Entgleisungen innerhalb eines ansonsten guten und funktionstüchtigen Systems. Andere sehen darin ein entgleistes System. Wieder andere erkennen das System jetzt als eines, dem die Tendenz zur katastrophischen Entgleisung wesensmäßig innewohnt; Devise: der globalisierte Finanzkapitalismus kann gar nicht anders, als auf fortwährend höherer Stufenleiter am eigenen Grab zu schaufeln. Je nach Standort des Betrachters kann die Rede, mit der unser Bundespräsident eben den Bankern die Leviten las, als couragierter Auftritt oder bloß irreführendes Herumgemeckere an Symptomen gesehen werden.

Das Dilemma auf die rheinland-pfälzische Bildungspolitik übertragen: Von berufswegen habe ich vergleichsweise häufig mit Leuten aus dem Mainzer Bildungs- und Kulturministerium zu tun, auch mit dessen Chefin, der Ministerin Doris Ahnen. Nicht minder häufig mit Lehrern, Schulleitern und Personen aus dem universitären Bereich. Erfahrung: Beiderseits scheinen verständige bis kluge, engagierte, ja sogar durchaus selbstkritische Menschen am Werk. Die Einlassungen beider Gruppen allerdings nebeneinander gestellt, gelangt man schnell zu dem erstaunlichen Eindruck, da werde von zwei völlig verschiedenen Bildungslandschaften gesprochen. Auch von zwei völlig verschiedenen Umgangsweisen miteinander: Das Ministerium behauptet, und glaubt das womöglich auch, im Land herrsche ein offener, freier Disput über den bildungspolitische Kurs, der in der Umsetzung die Akteure vorort offensiv einbinde. Demgegenüber sprechen viele dieser Akteure davon, nie gefragt, nie einbezogen, sondern zumeist nur mit Vorgaben, Anweisungen, vollendeten Tatsachen und wiederholt auch Maulkörben traktiert worden zu sein.

Wer sind die Guten, wer die Bösen? Wer hat recht, wer nicht? Objektive Antworten gibt es so selten wie objektive Wahrheiten. Stattdessen allenfalls kriminalistisch recherierte Tatbestände, die so oder so ausdeutbar sind - je nach Blickwinkel, Standort und Interessenslage. Alles relativ? Das schon, aber deshalb eben auch dem permanenten Streit unterworfen: Wer will mit welchen Mitteln und in wessen Interesse wohin? Objektiv sind nur die Naturgesetze, zu denen weder Ökonomie noch Politik gehören.         

     

15.11.
Es ist erstaunlich, wie sich Vorgänge manchmal gleichen, obwohl eine halbe Lebensspanne zwischen ihnen liegt und die Welt sich während dieser Zeit angeblich von Grund auf verändert habe. Vergangene Woche gingen Deutschland fast 100 000 Schüler auf die Straße, um gegen Missstände an den Schulen zu protestieren. Den Bildungspolitikern kam diese Bewegung völlig zur Unzeit, werden sie doch landauf, landab nicht müde zu betonen, dass just im Augenblick die Optimierung des Bildungswesens mit höchster Priorität vorangetrieben werde.

Die Proteste der Schüler machen jedoch offenbar: Die großen Worte sind durch keine entsprechend großen Taten gedeckt. In der schulischen (ebenso universitären) Realität bleiben tatsächliche bildungspolitische Bemühungen, so vorhanden, im besten Falle hinter den enorm aufgepuschten Erwartungen hinsichtlich der Verbesserungen des Systems zurück. Im schlechtesten Fall geht die Politik bloß wieder mal mit heißer Luft hausieren. In beiden Fällen entspricht der Ressourceneinsatz für die Bildung nicht dem dort wirklich Notwendigen.

Siehe dazu den Artikel
2008-11-15 Analyse/Kommentar:
Bildungsoffensive in schwerer See. Schülerproteste, Lehrerfrust und die Schönwettermacher von der KMK


Völlig absurd, aber doch genauso schon in den 1970ern erlebt, ist die Reaktion der Schulbürokratie, mancher Politiker und auch Kommentatoren auf die berechtigten Schülerproteste. Weil sie couragiert vielerorts mit Schulstreiks und Unterrichtsboykotten verbunden waren, werden sie verdammt und kleinlich verfolgt als "Schuleschwänzen". Die Methode ist bekannt: Mit lauthals staatstragendem Lamentieren über formale Regelverstöße oder Ordnungswidrigkeiten soll der Protest ins Unrecht gesetzt und in der Öffentlichkeit diskreditiert werden, sollen die Protestierer zugleich eingeschüchtert werden. Erwünschter Nebeneffekt: In der beidseitigen Aufregung darüber verschwinden die ursprünglichen Inhalte des Protestes aus dem Blickfeld. 

9.11.
Soll keiner dem Autor nachsagen, er liege allweil auf der faulen Haut, wenn sich an dieser Stelle mal wieder eine kleine Weile nichts tut. Die Funkstille der letzten paar Tage war dem Verfassen eines recht umfangreichen Vortrages in Sachen Klimawandel geschuldet, dessen Lektüre ich Ihnen hiermit wärmstens ans Herz lege.
 
2008-11-09 Vortrag:
Frisst Wachstum den Klimaschutz weg? Ein pessimistischer Beitrag zum großen Dilemma der Klimaproblematik



5.11.
Zum Ausgang der US-Wahl:
1.) Gut so!
2.) Nach monatelangen Stimmungsgelagen schauen wir jetzt mal, was - hoffentlich bald - an politisch Substanziellem kommt.


4.11.

Und während nun alle mit höchster Spannung auf den Ausgang der amerikanischen Wahlen in dieser Nacht warten, ein paar Sätze zum mir jüngst gemachten Vorwurf, unternehmerfeindlich zu sein respektive etwas gegen die freie Marktwirtschaft generell zu haben.

Meine Antwort: In solch generalisierender Form geht der Vorwurf fehl. Richtig ist, dass ich vielen der jetzigen Marktakteure nicht über den Weg traue. Richtig ist auch, dass ich dem Markt nicht zutraue, die anstehenden großen Menschheitsprobleme irgendeiner auch nur halbwegs vernünftigen Lösung zuzuführen. Seine Orientierung auf die nächste Bilanz und den kurzfristigen Profit macht den Markt als Instrument für Langfrist-Maßnahmen (von ggf. auch mäßig oder gar nicht pofitabler Natur) weitgehend ungeeignet. Richtig ist ferner, dass ich der Überzeugung bin, man sollte die großen Infrastrukturen des Gemeinwesens nicht dem unberechenbaren Spiel des Marktes überlassen: Bahn, ÖPNV, Kommunikationswesen, Energie- und Wasserversorgung,  Müllentsorgung, Straßennetze und sowieso Bildungswesen, Sozialwesen, Polizei und Militär, die Rente gehören krisensicher in Staatshand. Diese Strukturen haben per se unverzichtbare Zwecke für das Funktionieren der Gesellschaft; ergo: Gewinnmaximierung kann und darf nie Maßstab für den  Umgang damit sein. 

Unterhalb dieser Ebene der kollektiven Grundsicherung gibt es m.E. mannigfache Bereiche, in denen der Markt ein durchaus praktisches Instrument des Austausches von Gütern und Dienstleistungen sein kann - allerdings auch nicht automatisch ist, wie zuletzt Finanz- und Lebensmittelkrise zeigten. Der Markt bedarf der politischen Rahmensetzung; sich selbst überlassen gerät er immer wieder außer Rand und Band. Den Schaden haben dann nicht allein die lohnabhängige Bevölkerung hier und darbende Massen rund um den Erdball. Den Schaden haben dann ebenso kleine Gewerbetreibende und jene mittelständische Wirtschaft, bei der noch von Unternehmertum im eigentlichen Sinne die Rede sein kann. Denn: Es ist eine einseitige Betrachtungsweise, der Staat und die Gewerkschaften seien diejenigen, unter denen dieses Unternehmertum vorallem zu leiden habe. In mindestens ebensolchen Umfang kommt die Drangsalierung von den großen Konzernen und den Banken.          


Wünsche anregende Lektüre,
Andreas Pecht