Kolumne »Guten Tag allerseits«
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Sie finden hier die gesammelten Intro-Texte aus der Startseite von www.pecht.info im Monat April 2008 (beginnend beim ältesten Text, abwärts zu den jüngeren fortschreitend)
2008-04-05
Guten Tag allerseits,
"provinziell" soll Altkanzler Helmut Schmidt dem neben ihm  sitzenden Altkanzler Gerhard Schröder zugeraunt haben; kolportiert der "Stern". Das despektierliche Urteil habe der Rede von Kurt Beck auf dem letzten SPD-Bundesparteitag gegolten. Nun ist "provinziell" kein Unwert an sich. Das beweisen Heerscharen von nicht in jedem Fall blöden Mitmenschen einst und heute erst recht, die zeitweise oder dauerhaft nur zu gern das Hamsterrad urbanen Getriebes zugunsten der  "Borniertheit des Landlebens" hinter sich lassen.

Dort, also "draußen", angekommen, bemerken sie bei vielen Provinzansässigen eine seltsame Eigenart: Die loben einerseits die Abgeschiedenheit, Schönheit und Ruhe ihrer Landschaften über den grünen Klee, schlagen allerdings zugleich die angestrengtesten Purzelbäume, um dem, was sie in diesen Landschaften veranstalten, den Anschein urbaner Weltläufigkeit zu geben. Die Provinz beansprucht die Vorteile ihrer örtlichen Eigenart für sich, will aber eines auf keinen Fall sein: provinziell.

Was etwa in der Kultur trotz mannigfacher Bemühungen schlussendlich doch auf den widersinnigen Versuch einer Quadratur des Kreises hinausläuft. Und leider ziemlich oft auch ein schiefes Selbstbild hervorbringt, mit dem die Akteure vom Land ihrer eigenen Aufpolier-Propaganda auf den Leim gehen. Jüngstes Beispiel aus der rheinland-pfälzischen Provinz sind die Mosel Festwochen, jetzt in Mosel Musikfestival unbenannt, weil nach Überzeugung des Intendanten in der gleichen Liga spielend wie das Schleswig-Holstein- und das Rheingau Musikfestival.

Diese Aussage ist quantitativ wie qualitativ völlig absurd. Ist so abwegig, wie es eine Gleichsetzung des Trierer Opernschaffens mit demjenigen in Frankfurt wäre oder des Koblenzer Taylor-Balletts mit der Mainzer Schläpfer-Kompagnie. Und doch fallen solche Sätze etwa in Rheinland-Pfalz selbst auf Pressekonferenzen immer wieder. Wobei "Pressekonferenz" bisweilen nur ein anderes Wort ist für Innenmarketing, also Bebauchpinselung der regionalen Sponsoren durch die Veranstalter.

Da verliert sich manchmal das halbe Dutzend Vertreter der dünnen örtlichen Medienszene zwischen zehn mal so vielen Herrschaften im Nadelstreifen. Die schütteln einander die Hände, machen den wechselseitigen Bückling oder versprühen, Küsschen austauschend, wohlige Altvertrautheit. Da werden Grußworte verlesen, Dankeslitaneien hergebetet, dürfen Geldgeber aus Politik und Wirtschaft am Saalmikrofon glänzen. Und das kulturelle Programm, das kennt  nur "Weltklasse", "Superstars", "Einmaligkeit"... in ebenso "einmaligem Ambiente" - ob an der Mosel, am Mittelrhein, in der Pfalz oder sonstwo in der weiten Provinz.

Wenn auf derartigen "Pressekonferenzen" nicht gerade die TV-bekannte Lotto-Fee im Namen des Lotto-Sponsors über Glück schwadroniert oder eine Vertreterin der Sponsoren-Brauerei Löbliches über ihr Bier sowie die "wunderbare Atmosphäre des Festivals" verbreitet, dann, ja dann erfährt die geneigte Kulturjournaille jede Menge Erfreuliches über - vor allem die Bedeutung des Festivals für den Wirtschaftsstandort und den regionalen Tourismus.

Das ist: Falsches Thema am falschen Platz mit den falschen Leuten falsch aufbereitet. Und das ist "provinziell" in jenem negativen Sinn, den das Wort als Subtext eben auch mit sich führt: Groß tönen, und darüber am Ende vergessen, dass gerade in der Provinz Spannendes durchaus, ja vielleicht am besten im Kleinen gedeihen kann. Aufplustern macht weder groß noch interessant.    


Wünsche anregende Lektüre,
Andreas Pecht
 
2008-04-22:
Guten Tag allerseits,
es hat einige Leserreaktionen gegeben auf den Kommentar

 2008-04-13: Brot statt Benzin! Zu den aktuellen Hungerrevolten und explodierenden Nahrungsmittelpreisen

Die Resonenz war zwar durchweg positiv, allerdings wurde mehrfach angemerkt, der Hinweis auf die Übervölkerung des Planeten hätte etwas pointierter ausfallen können. Da ist was dran, zumal dieser von mir in früheren Artikeln als besonders bedeutsam dargestellte Aspekt in der jetzigen Diskussion neuerlich kaum eine Rolle spielt. Diese hebt hauptsächlich auf qualitative Komponenten ab. Etwa den Umstand, dass der Konsum neuer Mittelschichten in der Schwellenländern stark zunimmt und sich tendenziell dem unsrigen angleichen will. Oder dem Sachverhalt, dass die Nachfrage nach Biosprit Bauern weltweit aus dem Anbau von Nahrungsmitteln treibt. etc.

In der Tat haben die Diskutanten die quantitative Seite der Angelegenheit wenig im Blick: die nach wie vor extrem wachsende Weltbevölkerung. Nur ein TV-Magazin hat kurz an Thomas Robert Malthus (1766-1834) erinnert, jenen britischen Ökonomen, nach dessen Überzeugung die Steigerung der Nahrungsmittelproduktion letztlich nicht mit dem Bevölkerungswachtum würde Schritt halten können. Sicher, Malthus kannte weder Kunstdünger noch andere Möglichkeiten heutiger Agrarwirtschaft. Er hatte aber auch keine blasse Vorstellung davon, welche Mengen an natürlichen Ressourcen (Ackerfläche, Wasser, Luft, Bodenschätze) die Massengesellschaften, zumal die industriealisierten und automobilierten, des 20. und 21. Jahrhunderts verbrauchen.

Nimmt man die schiere Zahl von Menschen auf dem Erdball, und rechnet ein, dass im Prinzip alle nach dem Wohlstand westlicher Industrienationen streben (was man keinem verübeln kann), kommt man zu dem Schluss: Malthus könnte Recht behalten, und die - zuletzt oft belächelte, weil angeblich von der Wirklichkeit widerlegte - Studie "Global 2000/ Grenzen des Wachstums" nur etwas verzögert doch noch ihre Gültigkeit beweisen. Denn was findet im Moment tatsächlich statt? Im Endeffekt ein globales Ringen um Ackerfläche, Wasser und Luft(verschmutzungsrechte).

In diesem Zusammenhang sei nochmal auf meine Artikelserie zum Thema Überbevölkerung/deutsche Geburtendiskussion hingewiesen, aufzurufen über diesen Link

2006-07-22 Demographie-Serie "Wider die Hysterie in der deutschen Geburtendiskussion"      


Wünsche Erhellung und Anregung
2008-04-29:
Guten Tag allerseits,
nach allerhand so oder so gearteten Würdigungen von "68" schon während der zurückliegenden Monate, bringt dieser Mai erwartungsgemäß noch einmal eine Welle launiger Rückblicke auf den turbulenten Wonnemonat vor 40 Jahren. Schreiber wie Publikum scheiden sich nach wie vor in drei Hauptgruppen.
      
Die erste: Zeitgenossen, denen die Erinnerung an ein lebensintensives , juveniles Happening glänzende Augen macht.
Die zweite: Solche, die in "68" die eigentliche Geburtsstunde der bundesrepublikanischen Demokratie sehen, insofern da der Verfassungsgeist endlich vom toten Papier auf die Bürgerhirne übergesprungen sei.
Die dritte: Jene, die beim Gedanken an "68" stets sogleich Gift und Galle spucken, weil die damalige Revolte vermeintlich alle unguten Prozesse eingeleitet habe, an denen die Gesellschaft heute krankt - von Pisa über die Scheidungsrate bis zur Respektlosigkeit gegenüber den Rentnern.

Es ist aber ein ganz anderer Aspekt, der mich zuletzt besonders interssierte: "68" war ja keine deutsche Erscheinung, sondern eine schier globale Bewegtheit. Genau genommen war jener protestierende Aufbruch der erste Einspruch der ersten Nachkriegsgeneration (Kriegskinder und etwas jüngere Geschwister) gegen die von den Eltern eingerichtete geopolitische wie gesellschaftliche Nachkriegsordnung. Das war im Osten (Prager Frühling etc.) im Grundsatz nicht anders als im Westen: Es ging dort wie hier um Freiheitsrechte und die Möglichkeit neuer Lebensformen, dort wie hier wurden die dominanten Autoritäten und die Legitimation ihrer Vorherrschaft in Frage gestellt - ob hinsichtlich der Großmächte (USA/UdSSR), der repressiven Systeme (Kapitalismus/Parteidiktatur) oder der von den Universitäten bis in die Familien autoritär strukturierten Zivilgesellschaften.

Diese objektive Gemeinsamkeit des globalen "68" konnte nicht in gemeinsames Tun übergehen, weil - vereinfacht gesagt - die West-Protestierer ihre alternative Perspektive unter roten Fahnen suchten, was den Ost-Protestierern völlig unbegreiflich bleiben musste. Irrtümer auf allen Seiten, und somit die Suche nach einem "Dritten Weg" leider verbaut. Das Ende vom Lied erleben wir jetzt: Welt und Menschheit völlig beherrscht vom kapitalökonomischen Verwertungsinteresse, derweil Reste und Folgen des ideellen freiheitlichen und sozialen Aufbruches von 68 ums Überleben strampeln.

Im Übrigen kann es nicht schaden, einmal die Dimensionen etwas zurecht zu rücken: Deutschland erlebte ein vergleichweise idyllisches "68". Frankreich, Italien, USA, Mexiko, Japan, Südkorea, Osteuropa... - da war wirklich der Teufel los, sowohl hinsichtlich der Wucht der Proteste wie der Brutalität ihrer Niederschlagung. Damit es keine Missverständnisse gibt: Ich rede von der "68"er-Bewegung, nicht vom späteren Terrorismus.

Warum wird hierzulande dennoch "68" bisweilen als umfassendes Chaos, ja schiere Revolution betrachtet? Weil sich Deutschland mit wirklichen Revolutionen nicht auskennt. Weil diese Nation, anders als Frankreich, Mexiko oder auch die USA, nicht aus Revolution oder Befreiungskampf geboren wurde, so sehr wir uns auch bemühen, mit Bejubelung von Hambacher Fest, badischer "Revolution" oder Paulskirche einen solchen Eindruck zu erwecken.
Ruhe galt bei uns immer, gilt noch als erste Bürgerpflicht. Normabweichung, Widerborstigkeit, gar Widersetzlichkeit gegen staatliche oder gesellschaftliche Autorität haftet in diesem Land seit jeher der Geruch des Sakrilegs oder zumindest von schlechtem Benehmen an.