Thema Kultur
homezur Startseite eMail an Autor • eMail to author • contact auteureMail an den Autor Seitenübersicht • sitemap • Plan du siteÜbersicht sitemap Seite drucken • site print • imprimer siteArtikel drucken

2008-10-17 Feature/Kommentar:

Kult-Katalog von "Zweitausendeins" geht
modisch aufgemotzt ins 40. Lebensjahr

Der Zeitgeist greift sich das "Merkheft"
 
ape.  39 Jahre nach erstmaligem Erscheinen hat das Verlags- und Versandhaus Zweitausendeins  jetzt seinen Katalog, das so genannte „Merkheft“, völlig umgestaltet.  Wegen seiner Kleinheit, Einfachheit und Unangepasstheit genoss das  Zweimonats-Heft in einer großen Gemeinde schieren Kultstatus. Aus und vorbei. Ein Nachruf

Es gibt diese Schreckmomente: Da läuft ein alter Freund  urplötzlich in Yuppie-Anzug mit Schlips auf. Über Jahrzehnte hatte man ihn bei jedweder Gelegenheit bloß in Cordhose und Pullover erlebt. Äußerlichkeit nur, aber doch irgendwie auch eine Haltung, seine Lebensart –  als trotziger Restbestand von „68“ bis ins neue Jahrhundert hinübergepflegt. Jetzt dieser Kulturbruch. Ist’s Selbstaufgabe, Anpassung, Unterwerfung unter den Zahn der modernen Zeit? Oder ist’s der altbekannte Mann und derselbe Geist lediglich in neo-schickem Gewand?

Alles ändert sich, ständig. Ob am Ende zum Guten oder  Schlechten, sei dahingestellt. 39 Jahre lang hatte das „Merkheft“ allen Veränderungen im Werbegeschäft für Bücher und Tonträger widerstanden. 1969 brachte der Verlag, Buch- und Plattenversender Zweitausendeins das Werbeheftchen in eigener Sache erstmals heraus: im Mini-Taschenbuchformat, auf allerdünnstem Papier, in kleinstmöglicher Schrift, schwarz-weiß auf sämtlichen Seiten – vollgequetscht mit Textmassen, die launig bis rotzfrech das seltsame Sortiment des Unternehmens vorstellten. Nicht schön, aber voll und originell. Dabei blieb es.
 
Jetzt die Überraschung, oder der Schreck: Der Zeitgeist hat zugeschlagen. Mit der jüngsten Nummer, der 217., kommt das „Merkheft“ plötzlich im Illustriertenformat daher. Vier mal so groß wie bisher, durchgehend und opulent vierfarbig bebildert, gefällig gegliedert, das Papier dicker und glänzend, die Schrift größer. Ein Werbemagazin wie andere auch.

Sollte das der Abschied sein? Abschied von einem querköpfigen, eigensinnigen Unikum, das schon zum 1969er-Anfang in kein gängiges Marketingraster passte, und nachher sowieso nicht mehr? Abschied von einem treulichen Wegbegleiter seit Jugendtagen, durch Midlife nebst Krise hindurch? Abschied von einem Trotzkopf, der unsereinem alle zwei Monate als Wegweiser diente: Hin zu Büchern, die sonst keiner oder keiner mehr oder nicht in dieser Zusammenstellung hat; zu Schallplatten, später CDs, die es sonst nirgends gibt,  oder überall, aber vielleicht nicht für solch kleines Geld.
 
Der Vergleich alter Ausgaben mit dem neuen Merkheft tröstet etwas, denn im aufwendig aufgemotzten Outfit steckt noch immer der alte Inhalt: Launige Hinführungen zu und Hinweise auf Lese- und Hörstoffe – auch abgedrehte, durchgeknallte, unanständige; auch längst vergessene, verstaubte, angeblich unverkäufliche. Und: Die typische  Merkheft-Schreibe ist geblieben, klingt wie ehedem unkonventionell, aufmüpfig, lakonisch.

Ja, drinnen im Merkheft spukt noch immer etwas vom Geist des kultursinnigen Rock’n’Roll herum – der von Spartengrenzen nichts wissen will, von Normen und Konventionen erst recht nicht. Dieser Geist und das neue, gediegene Erscheinungsbild beißen sich. Aber das vermutlich auch nur im Hirn derer, die mit dem Merkheft alt geworden sind. Ist der Schreck über den Neuauftritt also ein nostalgischer Reflex? Natürlich ist er das. Ein kleiner Bruder jenes Schreckens, der durchs Land ginge, würde die Tagesschau bleiben wie sie ist, doch 15 Minuten später anfangen.            Andreas Pecht



(Erstabdruck am 18. Oktober 2008)


Diesen Artikel weiterempfehlen was ist Ihnen dieser Artikel
und www.pecht.info wert?
 
eMail an Autor • eMail to author • contact auteureMail an den Autor
eMail an webmaster • eMail to webmaster • contact webmastereMail an webmaster Seitenanfang • go top • aller en-hautan den Anfang Seite drucken • site print • imprimer siteArtikel drucken