Kritiken Theater
homezur Startseite eMail an Autor • eMail to author • contact auteureMail an den Autor Seitenübersicht • sitemap • Plan du siteÜbersicht sitemap Seite drucken • site print • imprimer siteArtikel drucken

2008-10-05 Schauspielkritik:

Dietrich Hilsdorf inszenierte in Wiesbaden "Eines langen Tages Reise in die Nacht" von Eugene O'Neill

 

Eine Hölle namens Familie
 
ape. Wiesbaden.  Je umfassender die Moderne aus Leben  Betriebswirtschaft macht, umso lauter besingt sie die Familie als Refugium selbstloser Menschlichkeit. Die Kunst hat diesem Glückversprechen stets misstraut. „Glasmenagerie“ in Bonn, „Buddenbrooks“ und „Amphitryon“ in Frankfurt, „Hamlet“ sowie „Reiz und Schmerz“ in Mainz, dazu am Wiesbadener Staatstheater „Nora“ und an diesem Wochenende schließlich Eugene O’Neills „Eines langen Tages Reise in die Nacht“: Ehe und Familie sind heuer zum Spielzeitbeginn zentrale Themen am Theater – und es liegt gewiss nicht an der Kunst allein, dass all die Stücke ohne Happy End auskommen müssen.

Dietrich Hilsdorf hat O’Neills 1956 posthum uraufgeführten Vierakter für Wiesbaden in eine irritierend ärmliche Häuslichkeit hineininszeniert (Bühne: Haitger M. Böken). Vom Reichtum des Familienvorstandes James Tyrone (Wolfgang Jaroschka) keine Spur; der pathologische  Geiz dieses Mannes nimmt in Kauf, dass man zwischen Schmuddel, Eintopf und Wiskeyflasche auf subproletarischem Niveau lebt. Der für kranke Angehörige durchaus lebensgefährliche Geiz des Alten ist eine der Markierungen am Weg dieser Familie in die Hoffnungslosigkeit.

Andere sind die Morphiumssucht der Mutter, die Tuberkulose des schriftstellernden jüngsten Sohnes Edmund sowie die schauspielerische Erfolglosigkeit von dessen älteren Bruder James (Tobias Randell). Das sieht auf den ersten Blick aus wie eine Konstellation, die den durchschnittlichen Theaterbesucher nicht betrifft, ihn höchstens als ferne Fallstudie mit Mitleidseffekt interessieren könnte. Aber so einfach kommen wir dem O’Neill und dem Hilsdorf nicht aus.

Wie die drei Tyrone-Männer ihre aus der Entziehungskur zurückgekehrte Mutter treulich umsorgen und zugleich misstrauisch beäugen, das führt vom Start weg einen Zungenschlag der Unaufrichtigkeit in den zweistündigen Abend ein. Wie die Mutter Edmund betüttelt und zugleich dessen Tuberkulose erst als Grippe verharmlost, dann aggressiv wegredet, das ist ein hier zwar zugespitzter, aber doch alltags-bekannter Mechanismus. Wie die vier in einem fort sich wechselseitig die Schuld für alle vergangenen und gegenwärtigen Unbilden in diesem „Heim“ zuschieben, das ist ein Stück aus dem wahren Tollhaus des Lebens.

Sie lieben und sie hassen sich. Oder: Sie glauben, sich zu lieben, weil man sich in der Familie eben zu lieben hat – und sie hassen sich doch, weil ihre unglücklichen Schicksale von Zeugung und Geburt an miteinander verflochten sind. An die Stelle des Ideals familiärer Solidarität tritt eine Hölle aus Misstrauen, Stichelei, Vorwurf, Beschuldigung: Familie jenseits der Idylle-Ideologie – von Eugene O’Neill erlebt und in „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ verarbeitet, von Hilsdorf und Mannschaft in ein bedrückend dichtes Kammerspiel zwischenmenschlicher Verbitterung gegossen.

Im überwiegend fein nuanciert aufspielenden Quartett ist Monika Krolls Darstellung der Mutter eine Klasse  für sich. Beim Frühstück noch in voller hausfraulicher Präsenz, werden ihre Gesten fortlaufend fahriger, ihre Schritte unsicherer: Der Geist ihrer Figur verflüchtigt sich zusehends und bis zum Abend vollends aus der tristen Welt. Mehr und mehr drückt sie sich in die Ecken, schleicht um jene Treppe herum, die hinaufführt zu den Spritzen, die hinausführen ins verflossene Glück der Mädchenjahre.                                      Andreas Pecht         

Info/Karten: www.staatstheater-wiesbaden.de

(Erstabdruck am 7. Oktober 2008)


Diesen Artikel weiterempfehlen was ist Ihnen dieser Artikel
und www.pecht.info wert?
 
eMail an Autor • eMail to author • contact auteureMail an den Autor
eMail an webmaster • eMail to webmaster • contact webmastereMail an webmaster Seitenanfang • go top • aller en-hautan den Anfang Seite drucken • site print • imprimer siteArtikel drucken