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2008-08-04 Nachruf:
Alexander Solschenizyn:
Legende mit Widersprüchen

Zum Tod des Literatur-Nobelpreisträgers: Mit dem monumentalen Werk "Archipel Gulag" hat der russische Schriftsteller Geschichte beeinflusst
 
ape. Kunst kann den Lauf der Welt nicht verändern. Dies mussten sich Generationen von Künstlern eingestehen. Doch es gibt Ausnahmen von der Regel. Der jetzt 89-jährig verstorbene Schriftsteller Alexander Solschenizyn hat die Geschichte des 20. Jahrhunderts tatsächlich beeinflusst:  mit Worten, die einem von Moden unabhängigen und unbeugsamen Geist entspringen.
 
Hohe Stirn, Rauschebart und im markanten Gesicht Schrunden eines Lebens. Das wurde von Revolution, Krieg, Verfolgung, Straflager, Exil, Krebs geprägt. Es endete jetzt in Moskau mit dem plötzlichen Herztod. In den letzten Jahren wirkte Alexander Solschenizyn  bisweilen wie eine jener Figuren, die in Anton Tschechows Theaterstücken das alte „Mütterchen Russland“ symbolisieren, auf das die neue Zeit keinen Pfifferling mehr geben würde. Nicht zufällig spielt das Hauptwerk des Literatur-Nobelpreisträgers von 1970 mit dem Titel „Archipel Gulag“ auf Tschechows rund 80 Jahre vorher erschienenes Buch „Die Insel Sachalin“ an. Beide Werke zeigen anklagend auf die Unmenschlichkeit russischer Straflager; Tschechow auf die des Zaren, Solschenizyn auf diejenigen Stalins.

1974 erschien der literarisch-dokumentarische Roman „Archipel Gulag“ in Paris, kurz darauf in fast allen westlichen Ländern. Die Sowjets ließen den Autor verhaften, schoben ihn bald nach Deutschland ab. Solschenizyn kam zunächst bei seinem   Freund Heinrich Böll unter, ging später in die Schweiz, dann nach Chile, richtete sich schließlich im US-amerikanischen Exil ein. 1994 kehrte er , rehabilitiert, nach Russland zurück.

Sein Roman schrieb derweil Geschichte – zuerst durch die tiefe Verunsicherung der westeuropäischen Bewegungen links von der Sozialdemokratie. Vor allem die großen Kommunistischen Parteien in Italien und Frankreich verloren Mitglieder in Scharen. Solschenizyns beklemmende Zeichnung vom perfiden Unterdrückungssystem der stalinistischen Straflager machte den Sowjetkommunismus als gesellschaftliche Alternative zum westlichen Kapitalismus unmöglich. Rückkopplungen auf das Geschichtsbild der Russen konnten nicht ausbleiben:  „Archipel Gulag“ befeuerte die Bürgerrechtsbewegung und die kritische Auseinandersetzung mit der Stalin-Ära in der Sowjetunion lange bevor das Buch dort  1989 erschien.

Die stalinistischen Lager und ihre Wirkung auf die Menschen waren Solschenizyns Thema, seit einige briefliche Bemerkungen über den Diktator ihn 1945 für neun Jahre selbst in den Gulag gebracht hatten. Die Erfahrungen dort sind im 1962 erschienene Roman „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ verarbeitet. Das den Lageralltag genau schildernde, aber mehr noch den psychischen Entwicklungen der Insassen mit Wärme nachfühlende Erstlingswerk machte den literarischen Debütanten im Westen schnell berühmt – und bereitete den Boden für die Verleihung des Literatur-Nobelpreises 1970.

Solschenizyn sah sich vielfach dem Vorwurf ausgesetzt, er liefere dem Westen ideologische Munition für den Kalten Krieg. Doch als Propagandainstrument taugte der 1918 in Südrussland geborene ehemalige Mathematikstudent nicht. Zu eigensinnig war sein Denken, zu individuell sein Charakter, zu groß sein Drang nach innerer Freiheit. Solschenizyn galt zwar bald als Mahner und Moralist, aber er setzte sich mit seinen Ansichten immer wieder zwischen alle Stühle.

Er prangerte den Werteverfall im Postsozialismus ebenso an wie im Westen. Russland forderte er auf, den „Westen nicht nachzuäffen“, sondern seinen eigenen Weg zu finden. Den Einsatz der Nato im Kosovokrieg geißelte Solschenizyn mit den Worten: „Nachdem sie die Vereinten Nationen auf den Müll geschmissen hat, proklamiert die NATO der Welt für das kommende Jahrhundert ein altes Gesetz – das des Dschungels: Der Stärkere hat immer recht.“ Zugleich hielt er auf Wladimir Putin große Stücke, hatte auch keine Einwände gegen Russlands aggressives Engagement in Tschetschenien. Und selbst manchen treuen Mitstreiter brachte er in den späten Jahren mit seiner im orthodoxen Christentum wurzelnden Exzentrik vom „heiligen Russland“ gegen sich auf. Seiner letzten Veröffentlichung über das Zusammenleben von Russen und Juden werfen Kritiker gar eine Neigung zu Antisemitismus vor.

Alexander Solschenizyn lässt sich schwer vereinnamen. Als strahlende Galionsfigur passt er zu keinem Schiff. Dennoch oder gerade deshalb war er ein Gigant des 20. Jahrhunderts: Eine jener auch  widersprüchlichen Geistesgrößen, die tun und sagen, was sie für nötig halten – ungeachtet aller Trends, Opportunitäten und persönlichen Gefährdungen. So hat der Autor des „Archipel Gulag“ unserer Zeit einen großen Dienst erwiesen.              Andreas Pecht

(Erstabdruck 5. August 2008)

Zum Tod von Schriftsteller Alexander Solschenizyn, Nachruf
 
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