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2008-06-24 Buchtips:
Die etwas andere Ferienlektüre

Sechs mal gehobene Literatur
aus der aktuellen Produktion

 
ape. Ferienzeit ist stets auch Lesezeit. Nicht jeder jedoch mag sich bei der Urlaubslektüre mit einschlägigen Spannungs-Schmökern bescheiden. Nachfolgend seien sechs im Frühjahr erschienene Werke vorgestellt – als Auswahl für jene, die es am Strand oder auf dem Balkon generell oder zur Abwechslung mal nach anspruchsvoller Literatur gelüstet.
 
Kurz erinnert sei an einen Roman, der bereits im März in aller Munde war: „Ein liebender Mann“ von Martin Walser (rowohlt, 285 S., 19,90 Euro). Sollten Sie diese Geschichte über die große Liebe des 73-jährigen Goethe zur 54 Jahre jüngeren Ulrike von Levetzow noch nicht gelesen haben, wäre jetzt Gelegenheit. Es lohnt sich. Denn aufgeräumter, kunstsinniger, zarter und doch verzweifelter lässt sich kaum schreiben über die Urgewalt der Herzensneigung selbst in einer ganz unmöglichen Konstellation.

Wir bleiben beim Thema große, indes unmögliche Liebe. Siegfried Lenz - wie Walser einer der bedeutenden alten Männer der deutschen Literatur – hat ein schmales, aber hinreißendes Bändchen über die Leidenschaft zwischen einem Pennäler und seiner Englischlehrerin geschrieben. Die Novelle „Schweigeminute“ (Hoffmann und Campe, 128 S., 15,95 Euro) beginnt mit der schulischen Gedenkfeier für die tödlich verunfallte Lehrerin.

Es gibt demnach kein Happy-end. Es bleibt auch der Beziehung des ungleichen Paares die Bewährungsprobe kaum denkbarer Fortdauer erspart. Und der Autor kann sich auf das schlichte Erzählen konzentrieren, wie es zu dieser Liebe kam und wie sie eine kleine Zeit lang vor sich ging - anno frühe Bundesrepublik, in der Kleinstadt, zwischen Ostseestrand, Schule und Hafen. Lenz diskutiert nicht, wertet nicht, belehrt nicht. Er schaut hin und beschreibt warmherzig das Geschehene; alles Übrige stellt er der Gedanken- und Herzensfreiheit seiner Leser anheim. Wunderbar.

Empfohlen sei das Buch eines weiteren Seniors. Der Mann ist weniger bekannt als Walser oder Lenz, und er lebt auch nicht mehr. Hans Sahl, der Dichter, Film-, Theater- und Literaturkritiker geboren 1902, verstarb 1993. Das Buch ist kein Roman, sondern fasst als Neuauflage Sahls Erinnerungsschriften „Memoiren eines Moralisten / Das Exil im Exil“ zusammen (Luchterhand, 511 S., 21,95 Euro).

Hier schreibt ein Feuilletonist aus persönlicher Sicht viel Gescheites über Menschen und Leben, Kultur und Politik seiner Zeiten. Und man versteht jeden Satz dieser kristallklaren und doch prächtig vielgestaltigen wie gefühlvollen Sprache. Unter der Hand verdichten sich Erinnerungen an Erlebnisse und lebhafte Miniaturen über  Literaten, Journalisten, Schauspieler, Filmemacher, Musiker, Ideologen und Kämpfer zu einem kulturhistorischen Panorama der Weimarer Republik, der Flucht vor den Nazis durch Europa, des Exils in Amerika. 

Von den großen alten zu etwas jüngeren Literaten um die 50. Alessandro Baricco hat mit „Diese Geschichte“ (Hanser, 312 S., 19,90 Euro) einen seltsamen, aber  ausgezeichneten Roman geschrieben.  Der besteht aus sechs beinahe voneinander unabhängigen Teilen, die sich zwischen 1903 und 1969 letztlich aber doch um Ultimo drehen. So heißt der Sohn eines piemontesischen Bauern, der Anfang des 20. Jahrhunderts seine Kühe verkaufte, weil er einen automobilen Traum hatte.

Aus dem schnöden Dasein heraustreten, um wider alle Vernunft zu finden und „zu tun, wozu du geboren bist“, auch wenn dieses Tun weder zu Reichtum noch Anerkennung führt. Darum geht es in „Diese Geschichte“. Auch um eine Liebe, die nie eine geworden ist und doch zwei Getrennte ein Leben lang aneinander bindet. Ein Sehnsuchts-Roman, der im melancholischen Ton von „Seide“ oder „Novecento“ vom kleinen Glück des Beisichseins selbst in Zeiten der Vergeblichkeit erzählt.

Atmosphärisch verwandt sind die Erzählungen, die Peter Stamm in seinem Band „Wir fliegen“ versammelt (S.Fischer, 174 S., 17,90 Euro). Alle zwölf kommen sie beinahe gemütlich daher. Und doch geht es darin jedes Mal um alles: Um Glück oder Unglück, also um Leben und Tod. Ob es die Frau ist, die dem Mann in der Wohnung über ihr essend, trinkend, redend sehr nahe kommt, ihn dann aber doch nicht zu greifen kriegt. Ob es das im Kindergarten vergessene Kind ist oder der Junge, der beim nächtlichen Einbruch ins Schwimmbad in der Damenumkleide von der Zuneigung Franziskas träumt… Stamms Geschichten enden nie wirklich, handeln auch nicht von Lösungen, sondern vom Beinahe – beinahe Glück, beinahe Unglück.     

Abschließend Michael Roes und sein Roman „Ich weiß nicht mehr die Nacht“ (Matthes & Seitz, 226 S., 19,80 Euro). Das ist ernste Literatur, aber auch starker Tobak und nicht jedermanns Sache. Roes steigt in die Hölle, ans untere Ende der Gesellschaft. Dorthin, wo auf Schrottplätzen geklaute Autos umgespritzt werden, und in maroden Fabrikhallen Väter ihr Geld bei illegalen Boxkämpfen verzocken. Dorthin, wo Prügel mit dem Gürtel Hauptspeise für Kinder ist und der Bruder es mit der Schwester treibt.

Ein düsteres, ein hoffnungsloses Buch? Das auch. Aber in den wechselnden Perspektiven einer fast surreal vernetzten Erzählstruktur gewährt es zugleich Blicke in die Seelen seiner elenden Protagonisten. Da sind Traumreste von Schönheit, Zärtlichkeit, Menschlichkeit, vom kleinen Glück. Beinahe greifbar, und doch längst verloren.  Andreas Pecht

(Erstabdruck 26. Woche im Juni 2008)


Buchtips/Ferienlektüre: Walser, Lenz, Sahl, Baricco, Stamm, Roes
 
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