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2008-04-11 Analyse:
Das große Ringen um bessere Schulen

Anmerkungen zum Reformprozess
im deutschen Bildungswesen

 
ape. Auf dem Weg von der Industrie-  in die Wissensgesellschaft lautet die zentrale Frage an Staaten und Individuen: Wie hälst du es mit der Bildung? Weshalb gegenwärtige Weichenstellungen für die weitere Entwicklung des Schulwesens ein Großthema sind, das Parteien und Verbände, Lehrer, Eltern und Schüler dauerhaft umtreibt.
 
„Jeden Tag wird eine andere Sau durchs Dorf getrieben.“ Sagt der Volksmund, wenn es  Projekte, Pläne, Beschlüsse und die entsprechenden Schlagzeilen hagelt, ohne dass ersichtlich wird, wohin das alles führen soll. So geht es vielen Zeitgenossen im Moment mit den Reformbemühungen von Politik und Bildungswissenschaft für das Schulwesen. Was wurde seit Pisa nicht alles angedacht, entworfen, beschlossen, auf den Weg gebracht oder wieder verworfen? Die meistdiskutierten Schlagworte jüngster Zeit etwa sind:  Zentralabitur, bundeseinheitliche Lehr- und Lernstandards, G8-Abitur, Ganztagsschule, Krise der Hauptschule, Einführung der Realschule plus.  

Manchmal wird heute übersehen: Dass die deutschen Schulen im Hinblick auf die Anforderungen des 21. Jahrhunderts reformbedürftig sind, das war schon vor dem Pisa-Schock 2001 bekannt. Die einschlägigen Fachkreise tüftelten schon lange vorher an diversen Reformansätzen. Auch jeder Lehrer wusste beim Blick auf die jüngeren Schülergenerationen: Es muss etwas geschehen. Und jeder interessierte Bürger konnte sich angesichts der demographischen Entwicklung ausrechnen: Da kommt was auf uns zu.

Pisa-Schock macht Reformern Dampf

Die Dinge gingen indes ihren Gang eher gemächlich. Schließlich wähnten wir uns, trotz mancherlei Problemen, noch immer im Stande einer führenden Bildungsnation. Dann kam der Pisa – und urplötzlich sah sich die Wirtschaftsgroßmacht Deutschland in Sachen Bildung auf der Liste der Sorgenkinder. Schulkrise. Bildungsnotstand. Mit einem mal waren alle Schlagworte der 1960er/70er wieder da, und mit ihnen sämtliche ideologischen Fronten von damals.

Wer schon immer gegen das dreigliedrige Schulsystem war, plädiert nun mit neuem Selbstbewusstsein und munitioniert mit skandinavischen Erfolgsbeispielen für dessen Abschaffung. Andere wettern gegen den Versuch, die „Einheitsschule“ durchzudrücken, kommen zugleich aber nicht umhin, über eine umfassende Reformierung auch des gegliederten Systems nachzudenken. Die Fronten scheinen festgefahren. Dennoch gibt es jenseits des Grundsatzdisputes erstaunlich viel Bewegung.

Allerdings  treibt bisweilen hektisches Krisenmanagment nach dem Pisa-Schock auch abstruse Blüten. Beispielsweise die Verkürzung der Gymnasialzeit um ein Jahr (G8). Die rigorose Rationalisierung dieses Bildungsganges lässt den Leistungsdruck explodieren, treibt Eltern und Schüler auf die Barrikaden. Ältere Zeitgenossen schütteln angesichts der G8-Unlogik nur den Kopf, denn sie erinnern sich an die 1960er: Damals wurde wegen des „Bildungsnotstandes“ die Volksschule von acht auf neun Jahre verlängert. Die Schüler sollten mehr und besser lernen. Heute wird mitten in der Bildungskrise Schulzeit um ein Jahr verkürzt. Das mag begreifen, wer will.

Unstrittiger Fortschritt: Ganztagsschule

Aber es gibt auch überraschend positive Entwicklungen. Herausragend: die Ganztagsschule. Sie ist mittlerweile über die Parteigrenzen hinweg im Grundsatz  unstrittig. Also werden über kürzer oder länger Ganztagsschulen in Deutschland die Regel sein – wie in vielen Ländern, die bei Pisa besser abschnitten, schon seit Jahren oder Jahrzehnten.  Diese neue Gemeinsamkeit ist keine Kleinigkeit, sondern ein Richtungswechsel deutscher Schulpolitik: Denn alsbald wird die Schule zum objektiven Lebensmittelpunkt unserer Jugend; mindestens fünf Tage die Woche werden die Schüler sich dort vom frühen Morgen bis weit in den Nachmittag hinein aufhalten.

Daraus ergeben sich völlig neue Anforderungen an Personal, Räumlichkeiten und Ausstattung der Schulen. Die Lehranstalt hat ausgedient, muss sich fortan als Lebensraum begreifen. In Ganztagsschulen genügen Klassenzimmer und Fachräume nicht. Hinzu kommen müssen Kantine, Ruhe- und Bewegungszonen, Gruppenarbeitsräume, Kreativzentren… Das Berufsbild des Lehrers wandelt sich, neues Lehr- und Betreuungspersonal ergänzt das bisherige – Schule wird ganz anders sein, als sie vorher war. Wer mit der Vorstellung an die Ganztagsschule herangeht, bloß den bisher vormittäglichen Unterrichtsbetrieb in den Nachmittag hinein auszudehnen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Rheinland-Pfalz hat auf dem Weg zur Ganztagsschule in Deutschland die Nase vorn. Hier wurden die Weichen früher gestellt, die Finanzmittel für Baumaßnahmen sowie personelle und sachliche Ausstattung der Schulen deutlich aufgestockt. Dies freilich vor dem Hintergrund einer jahrzehntelangen chronischen Unterfinanzierung des Bildungssektors. Ein Missstand, bei dem sich dieses Bundesland vom übrigen Deutschland kaum unterscheidet. Andere Industriestaaten gaben und geben pro Kopf einfach deutlich mehr für Bildung aus.

Objektive Zwänge weichen Fronten auf

Jenseits des ideologischen Säbelrasseln um das dreigliedrige System zeichnen sich  mancherlei Aufweichungen der Fronten ab. Da geht etwa in Hamburg eine Schulsenatorin der CDU stramm in Richtung Zweigliedrigkeit, oder können sich in rheinland-pfälzischen Kommunen und Kreisen inzwischen schon mal Unions-Parteigänger sogar für die Gesamtschule erwärmen. Die Triebfedern sind teils sehr praktischer Natur, rühren von objektiven Zwängen her.

Erstens sind die nachrückenden Schülerjahrgänge zahlenmäßig oft so schwach, dass ganze Schulstandorte gefährdet erscheinen. Zweitens tendieren die Schüler in so großer Zahl zu höherqualifizierenden Schulen, das an vielen Standorten ganze Schultypen – beispielsweise die Hauptschule – ausbluten. Diese Abstimmung mit den Füßen rührt, drittens,  vor allem her vom dramatisch abnehmenden Bedarf der Wirtschaft für Einfacharbeit und ihrem händeringenden Verlangen nach gut ausgebildetem Personal. Und viertens hat sich herumgesprochen, dass Bildungsferne einer der wesentlichen Faktoren bei sehr vielen gesellschaftlichen Problemen ist.

Neben der Ganztagsschule gibt es noch zwei weitere Gemeinsamkeit zwischen den Kontrahenten im Schulkampf: Die individuelle Förderung von Schülern soll gestärkt und die  soziale Durchlässigkeit des Schulsystems verbessert werden. Diese Übereinstimmung besteht allerdings nur im Grundsatz. Bei jedem Schritt zur praktischen Realisierung scheiden sich die Geister sehr schnell, weil sich sofort wieder Fragen nach Sinnhaftigkeit oder nicht des dreigliedrigen Schulsystems stellen.

Angst vor Abschaffung der Selektion

Sollen unsere Kinder möglichst lange gemeinsam lernen oder lieber früh auf unterschiedliche Schullaufbahnen gesetzt werden? Welche Unruhe diese Frage zu auszulösen vermag, ist derzeit beim rheinland-pfälzischen Streit um die Abschaffung der Hauptschule und die Einführung der so genannten RealschulePlus zu erleben. Viele Hauptschuldirektoren sind dafür, die Realschul-Vertreter jedoch überwiegend skeptisch. Es geht in diesem Fall – wie bei allen Ansätzen zur Aufhebung der strengen Systemgliederung in Deutschland - die Angst um, die Zusammenlegung von schwächeren und stärkeren Schülern würde das Niveau der stärkeren herabziehen.             
     
Erwiesen ist das nicht, die Erfahrungen aus vielen Pisa-erfolgreichen Ländern belegen eher  das Gegenteil. Klar ist allerdings, dass sich Deutschland die Aussortierung und dann Geringerqualifizierung  von Teilen seiner Jugend nicht mehr lange leisten kann. Denn das allgemeine Bildungsniveau bei den Pisa-Siegern setzt international neue Maßstäbe, denen wir uns nicht verschließen können. Beispiele: Qualifizierte Abschlüsse für jeden Jugendlichen auf möglichst hohem Niveau, der Anteil von Abiturienten und Studierenden pro Jahrgang um 30 bis 50 Prozent über dem hiesigen. Klar sein sollte auch, dass die Deutschland mehrfach attestierte soziale Ungerechtigkeit seines Schulsystems beseitigt werden muss.

Völlig unzweifelhaft ist, dass schwächere Schüler von Lernverbünden mit stärkeren erheblich profitieren – sofern Schulen und Lehrer sich vom Selektionsprinzip lösen und sich der Methodik des integrativen Lernens als schulpraktischer Maxime bedienen. Die Diskussion darum ist schwierig, weil hierzulande mehr ein Glaubenskrieg denn eine sachliche Auseinandersetzung. Weshalb die rheinland-pfälzische Schulministerin Doris Ahnen einen komplizierten Weg vorsichtiger Reformschritte geht, der möglichst keine Seite vor den Kopf stoßen will.

Mainzer Strategie der "sanften" Reform

Wenn man böse wollte, könnte man Ahnens RealschulePlus als Mogelpackung bezeichnen. Denn sie lässt zunächst eine kooperative Form zu, in der die Hauptschule gar nicht aufgehoben wird, sondern bloß räumlich mit der Realschule verbunden. Dort leben dann unter neuem Namen Haupt- und Realschule zwar Tür an Tür, aber doch getrennt für sich hin. Es braucht keinen besonderen Spürsinn, um das Provisorische, den Übergangscharakter dieses Ansatzes zu erkennen. Nach einer Phase des alltäglichen Nebeneinanders dürfte sich das Miteinander, dürfte sich die tatsächliche Verschmelzung der beiden Schultypen nachgerade aufzwingen.

Diese Form der „sanften“ Veränderungen in fließenden Übergängen kennzeichnet den gesamten Reformprozess im rheinland-pfälzischen Schulwesen. Den Schulträgern bleiben mannigfache Möglichkeiten, entsprechend der örtlichen Bedingungen und Erfordernisse zu wählen. Und manchem Träger ist da das Hemd bald näher als die ideologisch vielleicht bevorzugte, aber am Ort dennoch sterbende Schule.

Zwischenstadium großer Unübersichtlichkeit

Als Kehrseite hat die „sanfte Reform“ indes eine gehörige Unübersichtlichkeit des Schulsystems in unserem Bundesland hervorgebracht: Ein kunterbuntes Mosaik aus alten Schulen, Übergangsformen sowie neuen oder noch in der Entwicklung befindlichen Typen.  Vielleicht überschauen einige Fachleute noch das Ganze. Eltern schulpflichtiger Kinder sehen sich jedenfalls vor die Qual einer kaum mehr vernünftig zu treffenden Wahl gestellt. Grundschulen, Hauptschulen, Realschulen, Gymnasien, mit oder ohne eigener respektive gemeinsamer Orientierungsstufe; Regionalschulen, Gesamtschulen unterschiedlichen Zuschnitts, RealschulePlus kooperativ oder integrativ; Gymnasien G8 oder G9 mit und ohne Hochbegabtenzweig oder als Fachoberschule an die Berufsschulen angedockt. Diese und noch ein paar Typen mehr gibt es derweil alle in zweifacher Ausfertigung, mal als Halbtags-, mal als Ganztagsschule.

Fast hat es den Anschein, als solle der Mainzer Weg vom dreigliedrigen zum zweigliedrigen Schulsystem über die Zwölfgliedrigkeit führen. Gewiss fänden sich andere Wege für eine allseits als notwendig anerkannte Schulreformierung. Aber gibt es auch bessere oder besser gangbare Wege? Ja, erwidern Befürworter und Gegner der Dreigliedrigkeit gleichermaßen – und ein jeder zeigt sogleich in eine völlig andere Richtung.

So gesehen mag es sein, dass sich Doris Ahnens umständlicher Schleichweg schlussendlich als die pragmatischste Option im Stellungskrieg an der Schulfront erweist. Für die jetzigen Schüler, Eltern und Lehrer macht es die Sache allerdings kaum leichter, wenn sie um den Übergangscharakter der gegenwärtigen Unübersichtlichkeit wissen. Und permanenten Streit um all die Teufel, die im Detail stecken, kann auch der „sanfte“ Reformweg nicht vermeiden. Eher im Gegenteil.                         Andreas Pecht 

(Erstabdruck als leicht gekürzter Zweiteiler am 11./12. April 08)
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Auswahl früherer Artikel, die den Themenkomplex Schule/Bildung berühren: 

2008-01-02 Neujahrsessay:
Im neuen Zeitalter der Nützlichkeit -
Martwirtschaft wird Marktgesellschaft


2007-11-29 Kommentar:
Zu den Ergebnissen der jüngsten
IGLU- und PISA-Studien


2007-10-17 Kommentar:
Kultusminister streiten über eine
Nebenfrage - das Zentralabitur


2007-09-29 Analyse:
Rheinland-pfälzische Reform der
Lehrerausbildung geht jetzt
in die Praxis


2006-09-13 Kommentar:
Zum neuen OECD-Bericht - In der Bildung zulegen, wäre gut


2006-04-04 (Review) Essay:
Lernen - das größte aller Abenteuer


 005-11-04: Kommentar
Neue Pisa-Studie


2002-01-01 Neujahrsessay:
Nach dem PISA-Schock: Unsere Schulen brauchen Neuorientierung

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Schulreform, nach Pisa, Analyse, Deutschland, Rheinland-Pfalz
 
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