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2008-01-14 Konzerteinführung:
Von Trauer, Traurigkeit und Melancholie

Unkorrigiertes Manuskript des Einführungsvortrages zum 2. Orchesterkonzert im Görreshaus 07/08 am 13. Januar 2008. Auf dem Programm: Mozarts "Maurerische Trauermusik", Hartmanns "Concerto funèbre", Schrekers "Intermezzo op.8" und Schostakowitsch' Kammersinfonie op. 83a (arr. von Barschai)

 
ape. Koblenz. 

Meine sehr verehrten Damen und Herrn, liebe Musikfreunde,

seien Sie willkommen zum zweiten Orchesterkonzert im Görreshaus für diese Saison. TRAUER ist das zentrale Motiv dieses Nachmittags: geistig, gefühlsmäßig und musikalisch – auch wenn das zum strahlenden Sonnenschein heute nicht recht passen mag. Aber das Schicksal nimmt nun mal, so wenig wie die Kunst, Rücksicht auf das Tageswetter.

Mozarts „Maurerische Trauermusik“, mit der das Konzert nachher beginnt, trägt Trauer schon im Titel. Ebenso Karl Amadeus Hartmanns „Concerto funèbre“, Trauerkonzert, das vom Komponisten ursprünglich mal als Requiem geplant war. Während der erste Teil des Konzertnachmittags also bereits von den Titelgebungen der Werke her eine atmosphärisch eindeutige Definition erfährt – Trauer eben –,  liegt dieses Leitmotiv für den zweiten Konzertteil nicht sofort auf der Hand.

Das Intermezzo opus 8 , das den zweiten Teil eröffnet, entstand im Jahre 1900. Und sein zu jenem Zeitpunkt gerade 22-jähriger Komponist, Franz Schreker, gibt eine Lebensphase zu Protokoll, die ein anderes Gefühl denn Trauer nahe legt. Schreker erinnert sich an seine Sturm-und-Drang-Jahre in Wien folgendermaßen: „Ich war tatsächlich unentwegt verliebt und verlobt, besessen von dem Ewigkeitsgedanken der Liebe. Dies wurde mir von allen, selbst von meiner guten Mutter, etwas übel genommen. Aber es war doch herrlich!“ Das klingt  nun nicht eben nach Trauer, sondern nach der romantischen Schwärmerei eines jungen Mannes, den die ewige Lockung des Weibes allweil vom Himmel-Hoch-Jauchzend ins Zu-Tode-Betrübt stürzt. Den Burschen hat nicht Trauer, sondern Liebeskummer geplagt, was in der Exzentrik der Jugend allerdings durchaus zu Melancholie, ja lebensbedrohlichem Weltschmerz ausarten kann – wie Goethes junger Werther schon ein gutes Jahrhundert vor Schreker deutlich machte.

Melancholie oder romantischer Weltschmerz geistern durch sein Intermezzo, weshalb es durchaus zum Trauer-Leitmotiv unseres Konzertes passt. Denn wie „Freude“ nur ein Oberbegriff für ein ganzes Spektrum menschlicher Gefühle ist, so auch deren Antipode, die „Trauer“. Frust, wie man neudeutsch für Frustration, Enttäuschung oder Betrübnis sagt, ist eine der leichteren Spielarten von Trauer. In tiefe Verzweiflung hingegen kann einen Trauer als seelischer Schmerz über einen herben Menschenverlust oder ein existenzielles Unglück stürzen. Die Melancholie wiederum ist ein eigentümliches Zwischending: Einerseits hat sie – vor allem in ihrer pathologischen Ausprägung als Depression –  schon manch einen in den Selbstmord getrieben; für andere ist sie ein seltsam zwischen Freude und Trauer schwebendes Gefühl, ein In-sich-gekehrt-Sein, ein Sich-vor-der-Welt-Verbergen mit durchaus poetischen Dimensionen.

Vielleicht findet diese letztere Art von Melancholie am heutigen Nachmittag am ehesten bei Schostakowitsch eine Entsprechung; zumindest, was die ersten drei Sätze seines Streichquartettes opus 83 angeht, das wir als kammersinfonische Bearbeitung von Rudolf Barschai hören werden.  Alles über alles lässt sich vom heutigen Konzert sagen: Es behandelt auf unterschiedliche Weise unterschiedliche Aspekte von Trauer und Traurigkeit.

Was die historische Zuordnung der vier Werke angeht, so beginnen wir mit Mozart im späten 18. Jahrhundert – die Maurerische Trauermusik entstand 1785 in Wien. Das 19. Jahrhundert bleibt für diesmal außen vor, denn die anderen Programmpunkte entstammen alle drei dem  20. Jahrhundert: Schrekers „Intermezzo“ entstand wie gesagt im Jahre 1900, Hartmanns Concerto funèbre im Herbst 1939, das Opus 83 von Schostakowitsch datiert auf das Jahr 1949.

Befassen wir uns etwas näher mit Mozarts „Maurerischer Trauermusik“. MauRERIsche Trauermusik – nein, ich verhaspele mich nicht. Das kleine, nur ein paar Minuten dauernde Werk heißt so: MauRERIsche Trauermusik und nicht mauRISCHe. Mit den islamischen Mauren oder Sarazenen, die gut 700 Jahre lang die Kultur der iberischen Halbinsel, also Portugals und Spaniens prägten, hatte Mozart hier nichts im Sinn. Vielmehr handelt es sich um eine seiner freimaurerischen Werke. Mozart war Freimaurer. Sie wissen, Wolfgang Amadeus war nicht nur in seinem Lebensstil freizügig bis hin zur schieren Frivolität. Er war auch ein an allen politischen Vorgängen seiner Zeit interessierter junger Mann und ein durchaus ernsthafter Freigeist. 1784 trat er, 28-jährig, in Wien der ein Jahr zuvor gegründeten Freimaurer-Loge „Zur Wohltätigkeit“ bei.

Jetzt darf man sich die Freimaurerei weder jener Jahre noch überhaupt als obskure Geheimbündelei vorstellen. Die so genannten „Tempeldienste“ und inneren Rituale der Logen mögen Außenstehenden etwas skurril vorkommen, dennoch ist die Freimaurerei im Prinzip ein Kind der Aufklärung und heißen ihre fünf zentralen Säulen nicht umsonst Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Toleranz und Humanität. Die früher verbreitete üble Nachrede bis hin zum Vorwurf des Obskurantismus, ja der Teufelsbeschwörung war nicht mit dem tatsächlichen Tun der Freimaurer zu begründen, sondern entsprang der Angst und dem politischen Kalkul ganz anderer Kreise vor den aufklärischen Überzeugungen und Bestrebungen der Gemeinschaften.

In Wien gab es zu dieser Zeit etwa 800 in mehreren Logen organisierte Freimaurer, überwiegend liberal gesonnene Männer aus gutsituierten Bürger- und Adelskreisen. Viele von ihnen machten auch gar kein großes Geheimnis aus ihrer Logen-Mitgliedschaft, zumal bis Ende 1785 in Österreich ein ziemlich offener Aufklärungsgeist herrschte, von Kaiser Joseph II. gutwillig bis gleichmütig geduldet.  Joseph Haydn war fast zur gleichen Zeit Mitglied einer anderen Wiener Loge. Und überliefert ist, dass gut ein Viertel der Besucher bei den Mozartschen Subskribent-Konzerten des Jahres 1784 sich der Freimaurerei zurechneten.

Von daher mag es verständlich sein, dass bei den Musikhistorikern immer wieder mal der Verdacht aufkam, Mozart sei hauptsächlich der Reputation, der Beziehungen wegen, letztlich also aus Gründen der Karriere und des Geschäftes Freimaurer geworden. Diese These ist aber nicht wirklich haltbar, denn trotz aller Unberechenbarkeit hielt Wölferl den Freimaurern selbst dann die Treue, als sie vom Dezember 1785 an unter erheblichen Druck seitens der österreichischen Obrigkeit gerieten.

Im Dezember 1785 erließ Jospeh II. völlig unerwartet das sog. „Freimaurerpatent“, mit dem die Logen unter Kuratel gestellt wurden.
Verboten war nun die Neugründung von Logen auf dem Land und auf auswärtigen Adelsitzen; in keiner Stadt durfte es mehr als drei Logen geben und keine durfte mehr als 180 Mitglieder haben; jede Logen-Versammlung war anzumelden, die Mitglieder mussten den Staatsorganen namentlich mitgeteilt werden. Die Wiener Freimaurerschaft erfasste daraufhin schleichende Schwindsucht, die von 1789 an – Französische Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – wohl aus Angst vor der Repression durch den verständlicherweise hypernervösen Feudalstaat in galoppierende Auflösung überging. 1791 hatte die Freimaurer-Loge, der Mozart sechs Jahre zuvor beigetreten war, bloß noch 2 Mitglieder: einen Buchdrucker und einen Musikus namens - Wolfgang Amadeus Mozart. Chapeau! Die wohlfeile Pflege guter Geschäftsbeziehungen sieht gewiss anders aus.

Mozart komponierte eine ganze Reihe Musiken für die Festivitäten der Freimaurer. Die wohl bekannteste ist unsere Maurerische Trauermusik c-Moll, KV 477. Diese nimmt zugleich im Schaffen des Komponisten eine gewisse Sonderstellung ein, insofern sich darin eine der seltenen Cantus-firmus-Bearbeitungen Mozarts findet. Nach gewichtigen Akkorden in c-Moll, durch Kontrafagott, Bassett- und Waldhörner in dunkle Feierlichkeit getaucht, nehmen Oboen und Klarinetten im Mittelteil einen gregorianischen Choral in Es-Dur auf. Von dem heißt es in der Literatur einmal, seine Herkunft sei unerfindlich, ein andermal, es handle sich um einen antiken jüdischen Tempelgesang mit „eindeutigem Bezug auf die Lamentationen des Propheten Jeremias“.

Das letztgültig auszudiskutieren überlassen wir den Koryphäen der Kirchenmusikgeschichte. Für uns einfache Musikfreunde bleibt die Emphase trauriger Feierlichkeit, die allerdings am Ende des Stückes sich zu C-Dur, der hellichten Tonart aufschwingt. So strittig wie der Ursprung des Chorals in der Mitte der Maurerischen Trauermusik ist, so unklar ist heute, ob es sich bei diesem Werk tatsächlich um eine Trauermusik aus Anlass des Todes zweier Logenbrüder handelt, wie lange angenommen. Neuerdings gehen einige Forscher davon aus, dass Mozart es als rituelle Einzugsmusik für seine Loge komponiert hat. Wie dem auch sei: Eine stimmungsvolle Musik recht eigener Art ist dieses Stückchen allemal.

Da die Görreshauskonzerte in dieser Saison einen Violin-Schwerpunkt haben, gehört auch zum heutigen Programm selbstredend ein Violinkonzert.  Das ist Karl Amadeus Hartmanns „Concerto funèbre“; den Solopart übernimmt Wolfgang Schröder. Das Werk ist das einzige Violinkonzert Hartmanns, zugleich gilt es als sein bekanntestes Stück überhaupt. Der am 2. August 1905 in München geborene Komponist ist eine fast tragische Figur der jüngeren Musikgeschichte, darin Schreker und  Schostakowitsch nicht unähnlich.

In jungen Jahren war Hartmann ein musikalisch quirliger, experimentierfreudiger, ja verspielter Künstler. Über die 1920er finden wir in seiner Arbeit mannigfache Bezüge zu modernen Strömungen wie Jazz, Dada, Futurismus. Der Mann stand am Anfang eine viel versprechenden Karriere – bis 1933 die Nazis die Macht in Deutschland übernahmen. Schlagartig verliert Hartmann seine Verspieltheit, seine Musik nimmt einerseits unverkennbar ernste, ja düstere und resignative Züge an, beinhaltet andererseits aber auch eine subkutane Widerstandshaltung bis hin zur gewagten, fast politischen Störrigkeit gegenüber dem Ungeist der NS-Machthaber. So entstand in den mittleren 30ern etwa die Orchesterkomposition „Miserae“ mit der Widmung „Meinen Freunden, die hundertfach sterben mussten, die für die Ewigkeit schlafen, wir vergessen Euch nicht (Dachau 1933-1934)“. Es entstand sein erstes Streichquartett, das trotzig mit einem der jüdischen Musik entnommenen Thema beginnt.  1934/35 schrieb er seine Antikriegsoper „Des Simplicius Simplicissimus Jugend“. Und ganz am Ende der NS-Zeit komponierte Hartmann eine Klaviersonate mit dem Titel „27. April 1945“, die motiviert war durch den Vorbeimarsch von KZ-Häftlingen an seinem Haus.

Mit der Arbeit am Concerto funèbre, das wir heute hören, begann er wenige Tage nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen im September 1939.  Tiefste Verzweiflung und zugleich ohnmächtiger Zorn hatten sich auf das Gemüt des Komponisten gelegt, schildern nachher Bekannte und Freunde Hartmanns. Das vierteilige Violinkonzert fällt entsprechend düster aus. Die vier Sätze gehen bruchlos ineinander über und sind thematisch aufeinander bezogen. Vor allem den Choral-artigen abschließenden Teil wollte Hartmann aber auch als Ausdruck von Zuversicht in schwerer Zeit verstanden wissen.

Eine schwere Zeit war das dritte Reich auch für ihn als Künstler, obgleich Hartmann nicht zu den unmittelbar Verfolgten gehörte. Seine Werke wurden im Land nicht mehr gespielt, sind als „entartet“ abgestempelt, wie übrigens die seines Zeitgenossen Franz Schreker ebenfalls. Dem Kunst und Kulturbetrieb des Nationalsozialismus verweigerte er sich kategorisch. Der Reichsmusikkammer trat er trotz mehrfacher Aufforderung nie bei und verhielt sich auch ansonsten ziemlich störrisch der NS-Verwaltung gegenüber. Von Hartmann als einem Widerstandkämpfer zu sprechen, wäre indes eine falsche Gewichtung. Der Musiker erlegte sich selbst eine „innere Emigration“ auf, blieb quasi privatim seinen antifaschistischen und humanistischen Idealen treu. Kurzum: Er machte einfach nicht mit. Der Preis dafür war künstlerische Isolation und Abgeschnittensein vom offiziellen Kulturleben. Mir persönlich bleibt bei der Beschäftigung mit diesem Mann etwas rätselhaft, warum er keinen Gedanken daran verschwendete, ins Exil zu gehen. 

Nach Ende des Krieges zogen die Alliierten ihn für kulturpolitische Aufgaben heran. 1945 wurde er Musikdramaturg an der Bayerischen Staatsoper. Noch im selben Jahr gründete er eine Konzertreihe für Neue Musik, die 1947 den Namen „Musica Viva“ bekam und unter dem Dach des Bayerischen Rundfunks angesiedelt war. Diese Reihe leitete Hartmann bis zu seinem frühen Tod 1963, und sie hatte Vorbildcharakter für viele andere Bemühungen im Dienste der jungen Musikavantgarde. „Musica Viva“ wurde ein Forum für junge Komponisten wie Luigi Nono oder Hanns Werner Henze, deren Mentor Hartmann war. Hoch angesehen in Musikerkreisen als innovativer, überaus produktiver Künstler von Rang und Kunstförderer, blieb er doch über die bundesrepublikanischen Jahrzehnte dem breiten Publikum ein Unbekannter.

Da geht es Karl Amadeus Hartmann wie Franz Schreker. Zwar war der 1878 in Monaco geborene, 1934 in Berlin gestorbene Schreker im frühen 20. Jahrhundert einer der meistgespielten Komponisten. Aber die Nazis trieben ihn und sein Oeuvre 1933/34 so radikal und nachhaltig von den Bühnen und die Versenkung, dass er vergessen wurde und bis in die späten 1980er-Jahre vergessen blieb. Zuvor waren insbesondere seine Opern weithin bekannt. Die Musikwelt erlebte zwischen 1919 und 1922 gar einen so genannten „Fall Schreker“: Es tobte in den Fachblättern und an den Musikinstituten und -akademien ein kulturkampfartiger Disput darüber, ob man in Strauss und Humperdinck oder nicht doch eher in Schreker den eigentlichen Nachfolger von Richard Wagner sehen müsse. Aufführungen von Schreker-Opern waren kulturelle Ereignisse ersten Ranges, für manche freilich auch ein Ärgernis. Denn gespielt wurde darin auf für damalige Verhältnisse aufregende Art mit neuen, polystilistischen Klangdimensionen zwischen E- und U-Musik sowie mit gesellschaftskritischem Realismus, mit fantastischen Elementen im Stile ETA Hoffmans und natürlich mit allerhand sexuellen Hintergründigkeiten.

 Dieser Schreker – sie erinnern sich, das war der unentwegt verliebte und verlobte Bursche, von dem ich anfangs schon sprach – diesem Schreker also hing unter seinen Zeitgenossen der Ruf eines Erotomanen an. Die damaligen Medien fielen oft geifernd über ihn her, je nach politischer Couleur der Blätter wurde er als „linksradikal“ oder als „harmlos“, als Impressionist oder Perverser, als Judenzögling oder erzkatholisches Machwerk angegiftet. SIE können im wieder einmal sehr schönen Programmheft meiner verehrten Kollegin eine von Schreker selbst wunderbar humorig zusammengestellte Sammlung einschlägiger Zeitungsurteile über ihn nachlesen.

Weniger spaßig allerdings war, dass Aufführungen Schrekerscher Werke bereits in den 1920er-Jahren systematisch von braunen Störtrupps heimgesucht wurden. Als Sohn eines jüdischen Hoffotografen galt der Komponist ihnen als Jude und seine Musik als entartet. Schreker hatte in Wien studiert, und dort auch reüssiert, sowohl als Komponist wie als Chorleiter und Dirigent. Beispielsweise dirigierte er 1913 in Wien die Uraufführung  von Arnold Schönbergs „Gurreliedern“. 1920 ging Schreker nach Berlin, wo er für mehr als 10 Jahre der Hochschule für Musik als Direktor vorstand. 1933 in den Zwangsruhestand versetzt, kurz darauf offiziell als entarteter Künstler abgestempelt, erlag Franz Schreker am 21. März 1934 im Alter von 56 Jahren einem Herzinfarkt. Von diesem interessanten wie bedeutenden, aber so lange vergessenen Künstler hören wir heute, wie gesagt, mit dem Intermezzo Opus 8 ein kleines frühes Werk.

Wie sich die Schicksale des 20. Jahrhunderts manchmal ähneln. Hartmann: Von den Nazis als „entartet“ geächtet und in die innere Emigration entflohen. Schreker: Von den Nazis angefeindet, demontiert,  ebenfalls als „entartet“ geächtet und darüber gestorben. Dmitri Schostakowitsch, der Gigant unter den russischen Komponisten des 20. Jahrhunderts, von den Kommunisten der Stalin-Ära wiederholt als kleinbürgerlicher Abweichler von der Kunstästhetik des Sowjet-Sozialismus gebrandmarkt und dadurch in ein viele Jahre währendes Gefühl der künstlerischen und leiblichen Gefährdung, ja der permanenten Todesangst gestürzt. Die ganze Lebenstragik der Person des 1906 in St. Petersburg geborenen und 1975 in Moskau gestorbenen Schostakowitsch wird aber erst aus dem Umstand deutlich, dass dieser Mann zugleich selbst ein überzeugter Anhänger des Sozialismus war.

Die Musikgeschichte kennt nur wenige Komponisten, die so sehr wie  Schostakowitsch im Zwiespalt gefangen waren zwischen Kunst und Politik, zwischen Menschlichkeit und Staatsräson, zwischen Enthusiasmus für die Revolution und Angst vor der tödlichen Macht der Revolutionäre. Am 28. Januar 1933 traf ihn der Bannstrahl aus Stalins Politbüro: Unter der Überschrift „Chaos statt Musik“ geißelte die Parteizeitung Prawda seine Oper „Lady Macbeth aus Mzensk“ als Beispiel unsozialistischer Kunst. Damit beendete Stalin die Phase künstlerischer Experimentierfreude, von der die junge Sowjetunion bis in die zweite Hälfte der 1920er-Jahre in allen Kunstgattungen geprägt war. Der so genannte „Sozialistische Realismus“ wurde staatliche Kunstdoktrin – und unterwarf die russischen Künstler bis zum Tod Stalins 1953 in immer neuen Wellen dem drögen Kunstdiktat der Spießer im sowjetischen Führungsapparat.   

Einer dieser Wellen ist die späte Erstaufführung des 4. Streichquartetts opus 83 erst ein Jahr nach Fertigstellung geschuldet. Das Werk, das uns nachher in der sinfonischen Bearbeitung von Rudolf Barschai geboten wird, war 1949 fertig, wurde von Schostakowitsch im Herbst 1950 erstmals für eine private Aufführung aus der Schublade geholt. Die öffentliche Uraufführung erfolgte am 3. Dezember 1953 in Moskau, also ziemlich genau neun Monate nach dem Ableben Stalins.

Das Quartett Opus 83 ist, wie die Kammersinfonie 83a auch, als Ganzes in eine lyrische, eine von eigentümlicher Poetik durchdrungene Stimmung gefärbt. Im knappen ersten Satz bildet ein langer Orgelpunkt das Fundament, über dem sich verschlungene, motivisch kaum greifbare Linien bewegen. Es handelt sich dabei um Variationen eines kleinen Themas, das erst sehr spät in diesem Satz und dann auch nur ganz kurz anklingt. Diesen quasi rückwirkenden Zusammenhang zu erkunden, kann für die Partitur-Lektüre ganz spannend sein. Ihn im Konzertfluss erhaschen zu wollen, ist müßig und wahrscheinlich auch vergeblich. Ich empfehle deshalb: Hingabe an die Stimmung.

Das auch für den zweiten Satz, der mit einer Art zarten Romanze beginnt, sich über ein warmherziges Expressivo zu sphärischen Höhen aufschwingt, um schließlich mit dem wieder aufgenommenen Romanzen-Thema pianissimo zu verklingen. Der dritte Satz ist dann ein eigentümliches Gebilde. Hüpfende Staccato-Passagen werden von Unisono-Partien abgelöst. Darein schiebt sich ein drittes Motiv, das ein Kollege mal als „eine Art fernen Fanfaren-Klang“ beschrieben hat. Das ganze in Tongebung und Lautstärke recht zurückhaltend, sodass sich mir beinahe das Bild eines Vorbeimarsches bleicher Gespenster aufdrängt.

Der ohne Pause sich anschließende vierte und letzte Satz ist nicht nur der umfangreichste dieses Werkes, sondern per se ein Politikum – und ein schönes Beispiel für die im Oeuvre von Schostakowitsch, trotzt aller Angst, immer wieder aufblitzende subversive Widerständigkeit gegen die Verhältnisse in seinem Land. Die Motive und Melodien dieses Satzes sind überwiegend der jüdischen Volksmusik entlehnt -was 1949 nachgerade als Demonstration des Komponisten gegen den im Sowjetreich dieser Jahre stark verbreiteten Antisemitismus verstanden werden muss. Der Satz ist lebhaft, über weite Strecken von ausgelassenen, ja stampfenden Tanzrhythmen geprägt. Und dennoch liegt über dem Ganzen ein Schleier von Traurigkeit, der schließlich in einen resignativ verhauchenden Schluss einmündet. Womit dann der letzte Ton auch den passenden Punkt hinter das Leitthema des heutigen Konzertes setzen wird.

Zu dem wünsche ich uns nun viel Anrührung und natürlich auch Freude. Und wie immer können Sie, wenn Sie mögen, meinen Vortrag von Morgenmittag an im Internet nachlesen unter www.pecht.info,
Das nächste Orchesterkonzert im Görreshaus ist auf den 2. März datiert: Um 15.15 Uhr geht es dann wieder mit mir hier los, um 16 Uhr übernimmt im Saal Jaakko Kuusisto als Dirigent und Geigensolist.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.          
   
--------------------------------------------------------- Konzerteinführung: Mozart, Hartmann, Schreker, Schostakowitsch beim Görreshaus Koblenz, Rheinische Philharmonie     
 
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