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2007-11-20 Analyse:
Auch die Gesellschaft braucht
ihre Verschnaufpausen

Mit den Sonntagen wird unsere gesamte
Zeitstruktur zur Disposition gestellt

 
ape. Die christlichen Kirchen ziehen per Verfassungsklage gegen die Ausweitung der verkaufsoffenen Sonntage in Berlin zu Felde. Ist das bloß eigennütziges Kleben an überlebten Traditionen? Oder ist es Ausdruck durchaus zukunftsverantwortlicher Besorgnis darüber, dass die abendländische Zeitordnung zerstört wird?
 
Und am siebten Tage machte selbst der liebe Gott Pause. Von da an herrschte im Himmel wie auf Erden am Sonntag Ruhe von der Arbeit wie von allen profanen Geschäften. Damit der Mensch diese Regel nicht vergesse, übermittelte Moses sie als drittes Gebot in schriftlicher Form: Du sollst den Feiertag heiligen. Um geschäftstüchtiges Missverstehen zu vermeiden, erklärte der Prophet die Regel so: Am Sabbat „sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Rind, dein Esel, all dein Vieh“ (2. und 5. Buch Mose).

Seither werden im jüdisch-christlichen Kulturkreis Wochen gegliedert durch den jeweils siebten, den auch äußerlich besonderen Tag. Dieser „freie Tag“ fand seinen Niederschlag in mittelalterlichen Zunftordnungen ebenso wie in frühkapitalistischen Arbeitsreglements, wurde nachher durch die Weimarer Verfassung und schließlich das Grundgesetz als Tag „der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung“ gesetzlich geschützt. Mit der Übernahme des biblischen Gebotes in die weltliche Ordnung ist der durch den arbeitsfreien Sonntag vorgegebene Wochenrhythmus in den Rang einer allgemeinen gesellschaftlichen Norm erhoben: Der freie Sonntag wurde abendländisches Kultur- und Sozialgut, somit auch  unabhängig davon, ob er individuell zum Kirchgang oder zur schlichten Untätigkeit genutzt wird.

Uralte Rhythmen fallen

In unserer Zeit nun gerät dieser mehr als 2000 Jahre alte Rhythmus aus dem Takt – zusammen mit einem anderen Rhythmus, der natürlichen Ursprungs ist und bis in die Anfänge der menschlichen Spezies zurückreicht: Geschafft wird in der Regel am helllichten Tage, die Nacht ist zum Schlafen da. In Zahlen ausgedrückt: Von 40 Millionen Beschäftigten in Deutschland arbeiten heute 51 Prozent auch abends, nachts und am Wochenende, vor 13 Jahren waren es noch 38 Prozent; am Sonntag gehen heutzutage 28 Prozent der Arbeitsbevölkerung „gewöhnlich“ oder „manchmal“ zum Dienst, also 10,5 Millionen Menschen.

Mit der technisch notwendigen Dauerbesetzung bestimmter Produktionsanlagen hat das so wenig zu tun wie mit den unvermeidlichen Diensten etwa im Gesundheitswesen, bei Polizei und Feuerwehr, bei Straßenmeistereien, Energieversorgern oder in der Gastronomie. Ausnahmen von der regulären Kernarbeitszeit – ungefähr zwischen sieben Uhr früh und 19 Uhr am Abend – gab es immer. Jetzt allerdings werden die Ausnahmen zur Regel, wird die Kernarbeitszeit tendenziell auf 24 Stunden täglich an sieben Wochentagen ausgedehnt. Der im 20. Jahrhundert erkämpfte freie Samstag ist schon weitgehend gefallen, jetzt kommt der Sonntag dran.

Was gestern noch als außerordentlicher Arbeitseinsatz galt und deshalb  besonders  entlohnt wurde, verwandelt sich Zug um Zug in Normalarbeit. Wie weit dieser Prozess schon fortgeschritten ist, macht das derzeitige Ringen zwischen dem Einzelhandel und der Gewerkschaft Verdi um Abschaffung/Erhalt von Nacht- und Wochenendzuschlägen für die dortigen Beschäftigten deutlich. „Was soll unserem Leben Rhythmus geben, wenn man den Unterschied von Sonntag und Werktag nivelliert hat?“, fragt Bischof Wolfgang Huber. Ergänzen ließe sich: Wenn der Unterschied zwischen Tag und Nacht, zwischen Geschäftszeit und Feierabend vollends verschwindet?

Das hervorstechende Merkmal der derzeitigen Entwicklung ist ihr Dilemma. Die Ausdehnung der Kernarbeitszeit ruft ein verstärktes Bedürfnis nach Ausdehnung der Geschäftszeiten vor allem im Dienstleistungsbereich hervor. Wer im Schichtbetrieb oder bis in den späten Abend hinein arbeitet, will wenigstens danach oder am Wochenende in Ruhe einkaufen und ausgehen. Um das zu gewährleisten, müssen wiederum immer mehr andere zu immer ungewöhnlicheren Zeiten Dienst tun. Dies Dilemma spiegelt sich in Umfragen wider: Nacht- und Sonntagsarbeit werden zwar mit Mehrheit abgelehnt, die entsprechenden Dienstleistungen aber gerne angenommen.

Dilemma der  Bedürfnisse

Ausdehnung der Kernarbeitszeit und Bedürfnis nach Ausdehnung der Dienstleistungszeiten schaukeln sich gegenseitig hoch – bis absehbar die Zeitstruktur unserer Gesellschaft völlig umgekrempelt ist, beziehungsweise gar keine gemeinschaftliche Zeitstruktur mehr existiert. Dies ist allgemeiner Trend, die zehn verkaufsoffenen Sonntage in Berlin sind nur dessen zugespitzter Ausdruck. Darum zu streiten, hat seine Berechtigung, insofern man sich darüber klar werden sollte: Ist der Nutzen einer fortschreitenden Liberalisierung von Arbeits- und Geschäftszeiten den Preis wert, der alsbald dafür entrichtet werden muss?

Denn die Folgen sind schon jetzt unübersehbar. Bischof Huber skizziert eine davon in einem „Zeit“-Interview: „Wir können nicht über die Auflösung der Familie klagen, wenn wir zugleich befördern, dass die Mutter ihren freien Tag am Montag hat, der Vater am Donnerstag und die Kinder ihre freien Tage am Samstag und Sonntag haben.“

Es braucht nicht nur der Einzelne seine Ruhezeit. Das gesamte soziale Gefüge der Gesellschaft bedarf gemeinschaftlicher arbeitsfreier Phasen. Anders gesagt: Auch das Gemeinwesen muss seine Verschnaufpausen haben – sonst wird etwa das Vereinsleben so problematisch wie die Pflege privater Freundschaften schwierig. Weshalb  auch der irdischen Moderne recht sein sollte, was dem lieben Gott billig war: Nach guter Arbeit  zu einer vernünftigen Zeit Feierabend machen.       Andreas Pecht

(Erstabdruck am 21. November 2007)

 
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