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2007-09-26 Romankritik:
"Die Mittagsfrau" sorgt für alle
und verliert sich (fast) selbst

Julia Franck hat einen bedrückenden, aber wunderbar beredten Familienroman geschrieben
 
ape. Julia Francks Roman „Die Mittagsfrau“ beginnt mit einem ungeheuerlichen Ereignis: Eine Mutter setzt ihren siebenjährigen Sohn inmitten der ärgsten Nachkriegswirren auf einem Bahnhof aus und verschwindet einfach. Was ist diese Helene für eine Frau, dass sie so etwas tut? Eine, die eben noch von vier russischen Soldaten vergewaltigt wurde, erfahren wir im Prolog des Romans. Der führt hernach weit zurück in die Kindheit Helenes, rollt von dorther eine Vita auf, die so viel Unglück enthält, dass einem nach 430 Seiten die Verurteilung jener Mutter als Rabenmutter nicht mehr über die Lippen kommen mag.
 
Bautzen im Ersten Weltkrieg: Helenes Vater ist als kleiner Druckereibesitzer ein angesehener Mann in der Stadt. Seine Frau hingegen wird geschnitten, wegen „zweifelhafter Herkunft“, jüdischer. Ihre Söhne verliert sie bei der Geburt oder gleich danach. Nur zwei Mädchen überleben, Martha und ihre neun Jahre jüngere Schwester Helene. Momente von Kindheitsglück entspringen einzig der Schwesternbeziehung. Die Mutter verbirgt sich in geistiger Verwirrung, quält die jüngste Tochter mit aggressiver Ablehnung – mit ihr hat das falsche Kind überlebt.

Aber Helene ist ein kluges Mädchen, tüchtig, bildungshungrig. Sie besorgt die Druckereigeschäfte als der Vater einrückt. Sie versorgt ihn auf dem Sterbelager, als er schwer verwundet aus dem Krieg zurückkehrt. Sie umsorgt Martha, als diese im turbulenten Berlin der späten 20er-Jahre an der Nadel hängt. Sie sorgt – zwischen den Weltkriegen und während des Zweiten für ihre Patienten, als Krankenschwester, nicht als Ärztin, die sie hatte werden wollen, aber nicht durfte.

Sie sorgt – für den einzigen Mann, den sie je liebt, und der am Vorabend der Verlobung tödlich verunglückt. Sie sorgt – für den Ehemann, der ein Nazis ist und sie nur noch mies behandelt, da er in der Hochzeitnacht erfährt, dass er keine Jungfrau geheiratet hat. Sie sorgt - für ihr Kind, mit dem dieser Wilhelm sie, die Halbjüdin mit den falschen Papieren, hat sitzen lassen. Sie sorgt - und wird schweigsamer, von einem Lebensabschnitt zum nächsten.

Diese Schweigsamkeit ihrer Figur macht Julia Franck durch intensive Schilderung von Szenen, Momenten beredt. Das stille Fragen des Mädchens beim elenden Sterben des Vaters. Die innere Leere der jungen Frau nach dem Tod des Geliebten. Die Erduldung der Zumutungen durch ihren in dumpfer Selbstgewissheit auftretenden Mann. Die Sehnsucht nach ihrer Schwester und deren Gefährtin Leontine, genannt Leo. Schließlich, und fast unvermeidlich, das Sehnen nach Ruhe, nach Alleinsein, nach Befreiung selbst vom ängstlichen Klammern ihres Kindes. Doch noch in dessen Aussetzen am Bahnhof sorgt sie – mit Geld im Schlafanzug und einem Zettel im Köfferchen, darauf die Adresse eines Onkels.

Eine Familiengeschichte der besonderen Art, die tief hineinschaut in menschliche Psychologien und Beziehungen. Von der Autorin erzählt mit intensiv sinnlicher Sprache und beinahe filmisch dramatisierten Bildern. Die wahren meist die Genauigkeit des Kammerspiels, brechen nur an wenigen Stellen ins breitwandige Pathos aus. „Die Mittagsfrau“ ist zu Recht in der Schlussauswahl für den deutschen Buchpreis gelandet.    Andreas Pecht

Julia Franck: „Die Mittagsfrau“; S.Fischer, 430 S., 19,90 Euro.
 
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