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2007-05-16 Geschichte:
68er-Revolte verlief in Rheinland-Pfalz
nach anderen Regeln

Statt Straßenschlachten "nur" närrische Satire und kleinteiliger Protest - Vom Hunsrück aus eroberte jedoch eine neue Kultur aufmüpfigen Liedermachens Deutschland
 
ape. Rheinland-Pfalz. Die Menschen bodenständig, gemütlich, konservativ. Die Gegenden ländlich, Dörfer wie Städtchen idyllisch, und selbst die drei Großstädte eher klein. Damit bietet Rheinland-Pfalz keine guten Bedingungen für renitente Umtriebe. Und tatsächlich scheint es so, als seien die großen Protestbewegungen an diesem Bundesland vorbei gegangen. Ein Irrtum, wie der Blick auf die späten 60er-Jahre verdeutlicht.
 
Gemeinhin wird der Beginn der 68er-Studentenrevolte in Deutschland auf den Juni 1967 datiert: In Berlin eskalierten Demonstrationen gegen den Schah-Besuch zu Straßenschlachten, der Student Benno Ohnesorg wurde von einem Polizisten erschossen. Genau besehen, brachten die Ereignisse aber nur ein längst volles Fass zum Überlaufen. Vorher waren Adenauer, Erhard, seit 1966 die Große Koalition unter Kiesinger/Brandt. Vorher waren die Wiedereinsetzung alter Nazis in Amt und Würden, die Wiederbewaffnung, die allgegenwärtige Pflege des "Muffs aus 1000 Jahren".

Bis Mai 1968 wuchsen sich die Proteste in Berlin, Frankfurt, München, Hamburg, Heidelberg zu regelrechten Unruhen aus. In Frankreich kam es zu einem Generalstreik, gegen den De Gaulle um ein Haar die Armee in Marsch setzte. Indes: "In Mainz rührte sich der neue Geist, wie nicht anders zu erwarten, mit provinzieller Verspätung", schreibt der spätere SPD-Stratege Johano Strasser in seinen "Erinnerungen". Und in welcher Form äußerte sich dieser Geist? Als studentisches Happening im Rahmen des Rosenmontagszuges. "Umsatz, Umsatz, Umsatz, täterä" tönte es zur Freude des Publikums und zum Leidwesen der Zugleitung von Papptafeln und aus verkappten Narrenmündern.

In Rheinland-Pfalz folgte die 68er-Revolte eigenen Regeln. Von Straßenschlachten wissen die Chronisten nichts zu berichten. Ein bisschen Geschiebe und Gejohle hier und da. 2000 demonstrierten in Mainz gegen die Notstandsgesetze, 500 blockierten kurz den Schillerplatz - die Polizei ließ den Knüppel im Sack. Als in Berlin auf Studentenführer Rudi Dutschke ein Attentat verübt wurde und Deutschland ein tumultartiges Ostern erlebte, zogen Mainzer Protestierer im Schweigemarsch durch die Landeshauptstadt.

Rheinland-Pfalz war APO-mäßig (Außerparlamentarische Opposition) wenig schlagzeilenträchtig bewegt, aber es war doch bewegt. In zahllosen Gesprächszirkeln wie dem Koblenzer "Club Humanité" wurde der Zustand der Gesellschaft diskutiert und Protest gegen den Vietnamkrieg organisiert. Die Bewegung erreichte erstaunlich schnell Jugendliche auf dem Land. Der heutige Leiter des rheinland-pfälzischen Kultursommers, Jürgen Hardeck, erlebte als Knabe, dass seine älteren Mitschüler in Altenkirchen bisweilen mehr demonstrierten und diskutierten als lernten. Hotte Schneider, damals Schülerzeitungs-Macher in Simmern (Hunsrück), erzählt in seinem Buch über die Geschichte der Waldeck von Unterrichtsboykott aus Protest gegen die Notstandsgesetze. Andere Zeitzeugen berichten von ähnlichen Ereignissen etwa in Dierdorf, Idar-Oberstein oder Kastellaun.

Die "Revolte" war so kleinteilig wie Rheinland-Pfalz selbst. Aber sie fand statt, auch wenn die jüngere Geschichtsschreibung ihr kaum eine Notiz widmet. An einer Front des Protestes allerdings spielte Rheinland-Pfalz in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre eine herausragende Rolle: bei den Liedern und Versen zur Rebellion.

Dafür steht Burg Waldeck im Hunsrück, die alte Heimstatt der Wandervogel- und Jugendkulturbewegung des frühen 20. Jahrhunderts. Dort ging 1964 erstmals das Festival "Chansons Folklore International" über ein Bretterbühnchen auf grüner Wiese. 400 Zuhörer waren gekommen, staunten nicht schlecht und redeten hernach viel über "echte Folklore" aus aller Herren Länder. Liebes- und Partisanenlieder, Chansons, Bänkel- und erste Protestsongs rehabilitierten eine hierzulande unter Deutschtümelei und Schunkelseligkeit begrabene Liedkultur.

Der Anspruch des Waldeck-Festivals war anfangs nicht direkt politisch. Aber seine Internationalität, seine Offenheit, seine Denk-, Diskutier- und Lebensfreude ließ die gesellschaftskritische Komponente in den unterschiedlichsten Formen nachfolgend automatisch immer stärker werden. Man kann es nicht anders sagen: Die bundesrepublikanische Kulturströmung, die sich mit dem Begriff "Liedermacher" verbindet, hat ihre Wiege im Hunsrück.

Und dorthin zog es die mehr oder minder politisierten Barden zwischen 1964 und 1968 alle. Im ersten Jahr griff ein unbekannter Jüngling auf der Waldeck zur Klampfe und sang Poetisches bis Keckes mit dezenten Spitzen. Er fiel damals nicht weiter auf, der Reinhard Mey. Ein anderer mit seinen spitzzüngigen Satiren auf deutsches Spießertum umso mehr: Dieter Süverkrüp. Den stärksten Eindruck hinterließ wohl ein unbekannter Bänkelsänger aus Saarbrücken mit seiner giftig-surrealistischen Liedpoesie: Franz Josef Degenhardt .

"Wo sind sie geblieben unsere alten Lieder?", fragte er. Und sang als Anwort: "Lehrer haben sie zerbissen, Kurzbehoste sie verklampft, braune Horden totgeschrien, Stiefel in den Dreck gestampft." Damit hatte Degenhardt einen Gestus vorgegeben, der in den Folgejahren die Waldeck zum Zentrum engagierter Liedermacherei in Deutschland werden ließ. Hannes Wader, Walter Mossmann, Hein & Oss, Schobert & Black, Hanns Dieter Hüsch, Floh de Cologne und viele mehr trugen vom Hunsrück aus das Ihre bei zum geistig-kulturellen Umbruch in Deutschland.

Aus 400 Besuchern wurden bis 1968 mehr als 5000. Dann verausgabte sich das ursprünglich lebenslustige Renitenzfestival im erbitterten Grabenkampf um den richtigen Weg zur Gesellschaftsveränderung. 1969 übernahm ein anderes Festival, eine andere Musik und eine andere Gegenkultur die Führungsrolle im Herzen der nächsten Jugendgeneration: Woodstock. Die von der Waldeck ausgegangenen Liedermacher-Impulse wirkten allerdings noch lange fort. Eigentlich sind sie bis heute nie völlig verebbt.                                                                       Andreas Pecht

(Dieser Beitrag ist am 16.5.2007 erschienen in der Sonderbeilage der  Rhein-Zeitung zum 60. Geburtstag des Landes Rheinland-Pfalz)
 
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