Thema Wissenschaft / Bildung
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2007-05-14:
Jedes Gehirne ist scharf aufs Lernen

Einige leidlich gesicherte Folgerungen aus neurowissenschaftlicher Forschung

 
ape. Hirnforschung ist  die Trendwissenschaft unserer Tage, was das Interesse auch beim nichtwissenschaftlichen Publikum angeht. Das erhofft verbindliche Auskunft, warum der Mensch ist wie er ist, und ob er die Freiheit habe, auch anders zu sein. Deshalb sind Veranstaltungen, die Ergebnisse der modernen Hirnforschung vorstellen, ein Renner. Dieser Tage etwa strömten Lehrer aus ganz  Rheinland-Pfalz in die Uni Koblenz, um zu hören, was „Hirnforschung zu Lernen und Gedächtnis“ sagt.
 

Hans J. Markowitsch, Professor für Physiologische Psychologie in Bielefeld, referiert auf Einladung des Zentrums für Lehrerbildung in Koblenz über Erkenntnisse der Hirnforschung. Die Aula der  Universität ist voll. Starke Publikumsnachfrage gilt beim Thema Hirnforschung fast als normal: An gleicher Stelle verzeichnete das Philosophische Seminar vor einigen Monaten ein gut gefülltes Haus; volle Säle auch 2006 und 2005 in Mainz bei Tagungen über „Hirnforschung und Musikpädagogik“; das große Schauspielhaus Frankfurt überfüllt, als vor zweieinhalb Jahren der Hirnforscher Wolf Singer und der Philosoph Rüdiger Safranski zum Streitgespräch antraten.

BIOLOGISCHE GIGA-MASCHINE

Seit die moderne Technik es der Wissenschaft ermöglicht hat, dem Gehirn lebender Menschen bei der Arbeit zuzusehen, überstürzen sich  neue Erkenntnisse über die Vorgänge in unserem Kopf. Entdeckt wurde, dass das menschliche Hirn eine biologische Giga-Maschine schier unvorstellbarer Komplexität ist. Entdeckt wurde auch: Dass diese Maschine sich selbständig und unabhängig von unserem Willen organisiert. Das warf die von Singer und Safranski kontrovers beantwortete Frage auf: Ist der Mensch Herr oder Sklave seines Gehirns? Ein verbindliches Ergebnis im Grundsatz ergab weder der Frankfurter Disput noch irgendeine der zahllosen Folgediskussionen. Denn die Sache selbst ist zu kompliziert, um sie in eine griffige Formel zu bringen.

Viele Mess- und Beobachtungsergebnisse lassen mannigfache Deutungen zu, ein Großteil der Forschungen ist noch nicht weit genug für vernünftige Schlüsse. Was etwa soll man folgern aus der  in Koblenz vorgetragenen Beobachtung, dass beim Sprechen von Männern nur das Sprachzentrum in der linken Hirnhälfte aktiv ist, während bei Frauen zusätzlich ein in der rechten Hirnhälfte angesiedeltes Emotions-Areal zum Einsatz kommt?
Männliches Sprechen folgt mehr der Logik, weibliches obendrein der Intuition, wird die Beobachtung interpretiert. Aber was bedeutet das lebenspraktisch? Dass Männer beschränkt sind oder Frauen unkonzentriert daherplappern? Die Boulevards quillen über von solch wohlfeilen wie dümmlichen Verkürzungen. „Mozart hören macht schlauer“ war auch so eine, oder „14 Tage faul auf Mallorca macht sechs Monate Büffeln zunichte“.

Nimmt man exemplarisch den kleinsten gemeinsamen Nenner der  Veranstaltungen in Frankfurt, Mainz und Koblenz, ergibt sich ein Minimalkatalog von  leidlich gesicherten, seriösen und auch praktisch verwertbaren Erkenntnissen der Hirnforschung über und für das Lernen. Den Anhängern disziplinierten Büffelns und strenger Wissensüberprüfung dürften die allerdings kaum gefallen. Und die Lehrer werden angesichts der sich ergebenden  Anforderungen in einem dafür noch immer nicht geeigneten Schulsystem die Hände ringen.

SERIÖSE ERKENNTNISSE

Nachfolgend eine kleine Auswahl aus diesem Katalog – der übrigens vielfach bloß naturwissenschaftlich bestätigt, wovon die Erziehungswissenschaften auf empirischer Basis schon länger ausgehen:

Jedes Menschengehirn will und kann lernen, auch das ganz junge und das sehr alte.  Lob und Erfolgserlebnisse beflügeln das Lernen. Tadel, Strafe und Missachtung behindern es. Standardisierte Lernabläufe sind dem Lernen abträglich, das Gehirn sucht von Geburt an Abwechslung, Neuheiten, interessante Herausforderungen. Das Gehirn mag und braucht die wiederholte Begegnung mit einmal Gelerntem, aber es langweilt sich und schaltet schließlich ab, wenn das Drill-mäßig in stets der gleichen Weise geschieht. Stoff und Stimmung der konkreten Lernsituation sind für das Gehirn eine Einheit, in schlechter Stimmung angebotener Lernstoff wird deshalb schlechter behalten. Das Gehirn läuft zur Hochform auf, wenn seine Neugierde geweckt ist und es sich in kreativ-spielerischer Freiheit mit etwas auseinandersetzen kann. Lernen ist ein individueller Vorgang, unterschiedlich Gehirne bevorzugen unterschiedliche Lernformen und (multiple) Sinnesreizungen. Negativer Stress und Angst sind der Tod jedes Lernens ....

Sind wir Herr oder Sklave unsres Gehirns? Der Wirklichkeit am nächsten kommt womöglich die Positionen, wonach wir beides gleichzeitig sind. Fest steht inzwischen jedenfalls: Das Hirn arbeitet permanent, ist immer gierig nach neuen Eindrücken und Erfahrungen. Und alles Neue führt zu Neuordnungen der synaptischen Verschaltungen, ein Vorgang der überwiegend im Schlaf stattfindet. Praktischer Weise wird am besten behalten, was wir tagtäglich am meisten (ge)brauchen. Verschaltungen, die nicht wiederholt in Anspruch genommen werden, bilden sich bald wieder zurück: Man vergisst, oder hat große Mühen, die in weit abgelegene Speicher verschobenen Erinnerungsspuren zu reaktivieren.

Mehr als 90 Prozent des Lernens, ebenso  ein Großteil des Abrufens von Gelerntem vollzieht sich unbewusst, quasi automatisch. Insofern ist der Mensch Sklave seines Gehirns. Was auch sein Gutes hat, wie Markowitsch am Beispiel des Autofahrens verdeutlich: Würden wir über jede der unzähligen Entscheidungen, die in jedem Moment des Fahrens zu treffen sind, erst nachdenken müssen, der automobile Verkehr käme völlig zum Erliegen. Würden wir jeden der Abermilliarden Lerneindrücke während unseres Lebens bewusst verarbeiten müssen, der Homo sapiens wäre längst dem kollektiven Wahnsinn verfallen.

Aber die Neurowissenschaften haben auch bewiesen, dass wir das Gehirn beeinflussen können. Durch klug strukturierte Lernangebote, durch den (lebenslangen) Erwerb von grundsätzlichen „Bereitschaftslagen“ wie Neugierde, Offenheit, Skepsis. Das ist nicht die bedingungslose Geistesfreiheit im romantischen Sinn, aber es ist die Grundlage für eine Lebensweise mit humanem Gesicht. Wenn wir wollen.                    Andreas Pecht

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