Vortrag
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2007-04-30 Konzerteinführung:
Viertes und letztes Orchesterkonzert im Görreshaus der Saison 06/07

Staatsorchester Rheinische Philharmonie dirigiert von Ola Rudner. Programm:
Sinfonie c-Moll VB 142 von Joseph Martin Kraus, "Ein Sommerabend" von Zoltan Kodaly, Suite Mignone von Jean Sibelius, Sinfonie Nr. 80 d-Moll von Joseph Haydn
 
ape. Meine sehr verehrten Damen und Herrn, liebe Musikfreunde,

ich darf Sie recht herzlich zum vierten und letzten Görreshaus-Orchesterkonzert in der Saison 2006/2007 begrüßen. Fiel das vergangene Konzert am 11. März witterungsmäßig in einen vorgezogenen Frühsommer, so sind wir heute, Ende April, bereits in einem ausgewachsenen Hochsommer angekommen. Aber wie das Wetter auch sei und das Klima sich auch entwickeln mag: Für unsere Konzertreihe im schönen Saal und unter dem Dach des Görreshauses spielt das bisher und hoffentlich bis auf weiteres eine eher mindere Rolle. Und die Musik selbst erwies sich bislang, Gott sei Dank, als ziemlich witterungsresistent. Also schauen wir mal, was heute hier geboten wird.
 
Vier Werke von vier Komponisten. Drei der Tonsetzer sind gewissermaßen alte Bekannte.

Den frühesten, Joseph Haydn, kennt in dieser Runde wohl jeder. Ja selbst im Bevölkerungsdurchschnitt dürfte man zumindest den Namen des 1732 geborenen und 1809 gestorbenen Österreichers schon mal gehört haben. Schließlich ist er eine der besten Adressen in der Musikgeschichte, ist er Teil des Giganten-Dreigestirn Mozart, Beethoven, Haydn, das als personales Zentrum der so genannten Wiener Klassik gilt. Damit sollte, damit MÜSSTE der Name Haydn im schulischen Musikunterricht zumindest schon mal gefallen sein.

Vertreten ist im heutigen Programm auch wieder Jean Sibelius, der Musikjubilar des Jahres 2007. Wir haben an dieser Stelle schon wiederholt über den finnischen Nationalkomponisten gesprochen. Ich darf für den Augenblick nur noch mal seine Lebensdaten ins Gedächtnis rufen: Er kam 1865 in einem Örtchen mit dem wunderbaren Namen Härmeenlinna zur Welt und starb 1957 in Järvenpää bei Helsinki, nachdem er die letzten drei Jahrzehnte in völliger Zurückgezogenheit verlebt hatte. Wir begehen also sein 50. Todesjahr.

Nicht ganz so bekannt, aber in diesem Kreis auch schon öfter  erwähnt und bei den Görreshauskonzerten etwa im Januar 2005 mit seinen „Tänzen aus Galanta“ vertreten, ist Zoltan Kodaly (wie man ihn schreibt) oder Choltan Kodaai wie der Name des Ungarn ausgesprochen wird, zumindest ungefär. Er wurde 1882 geboren, starb 1967 und kann damit als Zeitgenosse von Sibelius gelten. Den Finnen und den Ungarn verbindet eine Passion, die nur in der Epoche der Nationalstaaten und Nationalismen entstehen konnte, in der die beiden lebten: Die Entwicklung einer ureigenen Nationalmusik auf der Basis von Alters her überlieferter regionaler Volkskultur. Sibelius engagierte sich derart in Finnland, Kodaly im ungarischen Raum. Sie werden darüber nachher noch etwas hören.

Haydn, Sibelius, Kodaly sind also die bekannten Komponisten im heutigen Programm. Aber da ist noch ein vierter, mit dessen c-Moll-Sinfonie unser Konzert nachher beginnt: Joseph Martin Kraus. Und von diesem Herrn Kraus, meine sehr verehrten Damen und Herrn, wissen die meisten von Ihnen vermutlich ebenso wenig wie ich bis zur Vorbereitung auf diesen Vortrag wusste. Den Namen hast du schon mal gehört - meinte eine blasse, weit zurückliegende studentische Erinnerung. Viel mehr, muss ich eingestehen, mochte das Hirn selbst bei noch so intensivem Grübeln allerdings nicht hergeben.

Was tut man in solch einem Fall? Man greift zu den einschlägigen populären Musiklexika, um sich geschwind eine Anfangsorientierung zu verschaffen. Aber was soll ich Ihnen sagen: Fehlanzeige – ein Joseph Martin Kraus ist dort nicht zu finden, man muss schon zur Fachliteratur greifen. Ähnliches widerfuhr mir zuletzt - Sie erinnern sich vielleicht - im Falle Antonio Salieris, dem Zeitgenossen und angeblichen Wiener Erzfeind Mozarts. Kraus spielt offenbar in der Musikrezeption, zumindest der jüngeren, nicht eben eine große Rolle. Was etwas verwunderlich ist. Denn einerseits wurde er bisweilen „Odenwälder Mozart“ oder „Schwedischer Mozart“ genannt. Was offenbar jedoch nicht auf  seine Musik gemünzt war, sondern bloß auf die Lebensdaten von Kraus: Er kam 1756 zur Welt, also im selben Jahr wie Mozart, und er starb 1792, also ein Jahr nach Mozart. Für eine Begegnung der beiden, fand ich keine Anhaltspunkte.

Andererseits gibt es da diese zwei ebenso prominenten wie  bemerkenswerte Urteile über den Mozart-Zeitgenossen Kraus, die auch im Programmheft fürs Konzert abgedruckt sind:  „Ich besitze von ihm eine seiner Sinfonien, die ich zur Erinnerung an eines der größten Genies, die ich gekannt habe, aufbewahre. Ich habe von ihm nur dieses einzige Werk, weiß aber, dass er noch anderes Vortreffliches geschrieben hat.“ Sagt wer? Kein geringerer als Joseph Haydn.

Dessen Aussage bezieht sich auf eine der beiden c-Moll-Sinfonien von Kraus. Leider war nicht herauszubekommen, ob Haydn diejenige aus dem Jahr 1783 meint, die wir heute hören werden. Oder ob er auf die c-Moll-Sinfonie anspricht, die anlässlich der Aufbahrung des ermordeten schwedischen Königs Gustav III. 1792 entstand. Das zweite Urteil über Kraus, das ich Ihnen zur Kenntnis bringen will, stammt von Christoph Willibald Gluck: „Der Mann hat einen großen Stil“. Wobei Glucks Urteil mit etwas Vorsicht zu genießen ist. Warum? Nun, die Musik von Kraus enthält mannigfache Anlehnungen an den Stil gerade von Gluck.   

Obwohl Kraus nur 36 Jahre alt wurde, hinterließ er ein nicht eben kleines Oeuvre. Opern, Ballettmusiken, Kirchen- und Kammermusik, ein reiches Liedschaffen sowie acht Sinfonien summieren sich zu einem Werkverzeichnis von mehr als 200 Titeln. Warum aber ist Joseph Martin Kraus trotz der lobenden Urteile aus prominentem Mund und trotz seines so umfänglichen Werkes in der  Musikgeschichte nur eine Fußnote geblieben? Eine wirklich schlüssige Antwort auf diese Frage gibt es bislang nicht, muss auch ich schuldig bleiben. Was mir zwischenzeitlich von seiner Musik zu Gehör kam, ist jedenfalls wesentlich besser als seine quasi nicht vorhandene Popularität vermuten lässt.

Erlauben sie ein spekulative These: Kraus hatte das Pech, den größten Teil seines schöpferischen Lebens an einem Ort zu verbringen, der - musikgeschichtlich gesehen – eher als Diaspora betrachtet wurde: der schwedische Königshof zu Stockholm. Und er hatte obendrein das Pech, in einer weltvergessenen Gegend aufzuwachsen: im Odenwald. Was ihn zu einem Landsmann von mir macht.  In Miltenberg am Main kam er 1756 als Sohn eines kurmainzischen Beamten zur Welt. Im Odenwald-Örtchen Buchen besuchte er die Lateinschule. Dort wurde sein musikalisches Talent vom Rektor und vom örtlichen Kantor entdeckt und gefördert. Womit für ihn persönlich, was die musikalische Förderung angeht, die provinzielle Umgebung sich sogar als Glück erwies. Das sich beim Schulwechsel aufs Jesuitengymnasium und Musikseminar nach Mannheim fortsetzte. Der junge Kraus genoss eine ziemlich gute, zumindest eine sehr solide  Musikausbildung.

Dann kam, was damals meistens kommen musste: Der Bub sollte einen ordentlichen Beruf erlernen - weshalb der Papa ihn zum Jura-Studium nach Mainz schickte. In Mainz hat es ihm wohl nicht sonderlich gefallen, weshalb der Studiosus erst an die Universität Erfurt wechselte, später nach Göttingen. Die Juristerei betrieb der junge Mann aber eher halbherzig: Statt sich auf Rechtsphilosophie, Gesetzestexte und deren Kommentierung zu konzentrieren, schrieb er beispielsweise Gedichte und ein dreiaktiges Trauerspiel, komponierte er unter anderem ein Te Deum, zwei Oratorien und eine große Motette.

Im Juni 1778 besuchte Kraus einen Kommilitonen in Schweden. Und dort blieb er dann auch. Für eine ganze Weile lebte er sehr ärmlich im fremden Land. Bis 1781 seine Oper „Proserpina“ uraufgeführt wurde, die sogleich die Lieblingsoper von König Gustav III. wurde. Damit war die berufliche Zukunft gesichert: Kraus erhielt eine Anstellung, wurde bald Erster Kapellmeister am Stockholmer Hof und Direktor der Königlich-schwedischen Musikakademie. Vom König bekam er obendrein den Auftrag, das schwedische Musik- und Theaterwesen zu reformieren. Ein Auftrag, der ihn zwischen 1782 und 1786 auf staatlich angeordnete und bezahlte Studien- und Erkundungsreisen quer durch Europa führte. Dabei begegnete er unter anderem Haydn, Gluck und Salieri.

Kraus’ frühes Ende 1792 ist aufs engste verbunden mit dem tragischen Tod seines Königs. Im März 1792 erlag Gustav III. einem Attentat, was Kraus tief erschüttert haben soll. In einer gewaltigen Kraftanstrengung komponierte er eine Trauersinfonie und eine Trauerkantate für die königlichen Begräbnisfeiern. Diese Anstrengung war zu viel für den zeitlebens wegen einer schweren Tuberkulose in Jugendjahren schwächlichen Kraus: Er brach zusammen, und nur neun Monate nach seinem König starb auch er.

Damit genug von Joseph Martin Kraus, dem „Odenwälder Mozart“, der in Schweden ein umfangreiches Werk schuf, dessen Rezeption in unseren Tagen noch - oder wieder - in den Kinderschuhen steckt. Im vergangenen Jahr soll es anlässlich von Kraus 250. Geburtstag vor allem im Badischen einige Versuche gegeben haben, den Mann und sein Werk etwas bekannter zu machen. Allzu viel mitbekommen hat man davon andernorts jedoch nicht. Da hatte Kraus wohl wieder Pech, weil im vergangenen Jahr eben Mozarts 250. Geburtstag alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Wie auch immer: Freuen Sie sich auf die Begegnung mit seiner c-moll-Sinfonie und bilden Sie sich über seine musikalische Qualität ein eigenes Urteil.

Wie das erste Stück beim heutigen Konzert, so stammt auch das letzte Stück aus dem späten 18. Jahrhundert: Joseph Haydns Sinfonie Nr. 80 d-Moll. Sie wurde, wenn die überlieferten Entstehungsdaten stimmen, im selben Jahr komponiert wie Krausens c-Moll-Sinfonie, nämlich 1783. Zu Haydns Leben hier nur ein paar Sätze. Was für Kraus das schwedische Königshaus, war für ihn die Fürstenfamilie Esterhazy, eines der traditionsreichsten und historisch bedeutendsten ungarischen Adelsgeschlechter. Ihr diente er zwischen 1760 und 1790 als Kapellmeister, Opernchef und Hauskompositeur. Die überwiegend hervorragenden, zwischendurch aber auch mal ziemlich schlechten Beziehungen zwischen den Esterhazy-Fürsten und ihrem Musicus sind vielfach beschrieben worden.

Zur Person Haydns nur dies: Er war klein von Statur und wie so viele Menschen jener Zeit von Pockennarben gezeichnet. Was ihn allerdings nicht verdrieste: Der Mensch Haydn war von eher sonnigem Gemüt, stets zu Witzen und regelrechten Streichen aufgelegt, im Umgang freundlich und  voller Wärme. Die Musiker der Esterhazy’schen Kapelle schätzten die angenehme Arbeitsatmosphäre, die Haydn herzustellen wusste. Sie schätzten auch, dass ihr Orchesterleiter sich wiederholt beim Fürsten für ihre sozialen Belange einsetzte.

Haydn war bereits zu Lebzeiten in der Musikwelt eine Legende.  Während seiner ausgedehnten Konzertreisen durch England 1790 bis 1792 und dann wieder 1794/95 feierte ihn das Publikum wie einen, heute würde man sagen: Superstar. Und richtig reich wurde er in England obendrein. Eine zeitlang soll er sogar überlegt haben, dorthin  umzusiedeln. Er ließ es dann aber, kehrte auf den Kontinent und in die Dienste der Esterhazys zurück. Als hoch angesehener Mann schuf  er in seinen späten Jahren vor allem die großen Messen und die beiden Oratorien „Die Schöpfung“ und „Die Jahreszeiten“. Am 31. Mai 1809 starb Joseph Haydn im für damalige Verhältnisse biblischen Alter von 77 Jahren.

Sein Einfluss auf die Musikentwicklung kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Haydn gilt als Vater der klassischen Sinfonie und des Streichquartetts. Zutreffender ist wohl die Formulierung, dass er die Gattungen der Sinfonie, des Streichquartetts und des Oratoriums auf jene Höhe getrieben hat, die wir „klassisch“ nennen. Haydn war, man mag das heute kaum wahrhaben, ein experimenteller Musiker. Und er war ein Aufklärer. Einer, der in der Musik, vor allem der Instrumentalmusik, eine geistig-intellektuelle Freude erleben wollte.

Seine Sinfonie Nr. 80 d-Moll ist ein sehr schönes Beispiel für die Experimentierfreude, die ihm eigen war. Sie scheint ohne Hauptthema auszukommen, ergeht sich stattdessen im ersten Satz in einer auf-  und abwärts-schreitenden Bewegungslinie. Ein Musikwissenschaftler beschrieb diese Linie mal als „stapfend“ und in eine „gemütliche Tanzweise“ einmündend. Ob nun schreitend oder stapfend - viele Kleinigkeiten sprühen jedenfalls von jener Haydn´schen Raffinesse, die seine späten Sinfonien so interessant macht: oft überraschende dynamische Kontraste, versetzte Akzente, erstaunliche harmonische Entwicklungen oder Begleitformen.

Im Schlusssatz der 80. tritt einer der wichtigsten Wesenszüge Haydns überaus deutlich zutage: sein Humor. Da spielt er ausgelassen mit Rhythmen und vielerlei Effekten, entwickelt im Finale aus einem ganz einfachen Thema ein unentwegtes Vorwärtstreiben. Es mag Gründe geben, warum dieses Werk vergleichsweise selten gespielt wird. Es aber nicht gehört zu haben, wäre wirklich schade.  

Für die beiden Mittelstücke unseres Konzerts verabschieden wir uns vom 18. Jahrhundert und springen ins 20. hinüber. Ich hatte vorhin schon kurz auf die gemeinsame Passion von Kodaly und Sibelius hingewiesen: Sie wollten eine Nationalmusik für ihre so lange von auswärtigen Großmächten dominierten Nationen schaffen. Eigentlich muss man es anders formulieren: Sie wollten eine Musik schaffen, in der sich ein eben erst entstandenes Nationalgefühl wiederfindet und an der es sich aufrichten kann. Auf solch eine Idee hätten Kraus und Haydn gar nicht kommen können, weil zu deren Zeit die Welt noch nach Herrschaftsgebieten und Reichen strukturiert war, und von Nationen im ethnischen, kulturellen oder politischen Sinn keine Rede sein konnte.

Kodaly war es also um eine ungarische, Sibelius um eine finnische Nationalmusik zu tun. Die Herangehensweisen beider waren recht verschieden. Der Ungar  sammelte, erforschte und analysierte zu diesem Zweck intensiv das überlieferte Volksliedgut seiner Landsleute; längere Zeit stand Kodaly als Mitstreiter Bela Bartok zur Seite. Der Finne Sibelius ließ sich vor allem von den tradierten Volkssagen und –epen in seinem Land zu einer ganz eigenen Kunstmusik inspirieren. Das Stück „Sommerabend“ von 1906, das wir gleich im Konzert als drittes hören werden, war Teil von Kodalys Diplomarbeit. Gespielt wird heute eine vom Komponisten selbst vorgenommene spätere Überarbeitung.

Interessant ist, dass Kodaly nach eigener Aussage, von einem Sibelius-Werk zu seinem „Sommerabend“ angeregt wurde. 1904 erlebte er in Budapest eine Aufführung von Sibelius’ „Der Schwan von Tuanela“, die offenbar großen Eindruck auf ihn gemacht hat. Kurz nach jenem Konzert begann Kodaly auch mit seinen legendär gewordenen Forschungsarbeiten über die ungarische Volksmusik. Man darf davon ausgehen, dass die Beschäftung mit Sibelius und dessen finnischer Nationalmusik dem Ungarn ein Ansporn für seine Arbeit war.

Sie werden im „Sommerabend“ unschwer etliche Einflüsse dieser Suche nach einem eigenen ungarischen Ton erkennen: volksliedartige Strukturen oder  Pentatonik etwa. Und sollten Sie sich bisweilen an Brahms erinnert fühlen, ist das auch kein Zufall, denn Kodaly linste bei seinen frühen Kompositionen immer wieder zu dessen „Ungarischen Tänzen“. Was er übrigens später bleiben ließ. Wahrscheinlich erkannte er irgendwann, dass Brahms eher in einem Folklore-Colorit schwamm, wie es die österreichisch-ungarischen Salons liebten und das mit den tatsächlichen ungarischen Musikwurzeln recht wenig am Hut hatte.

Das musikgeschichtlich jüngste Werk am heutigen Nachmittag ist die Suite mignonne von Jean Sibelius, entstanden 1921. Dabei handelt es sich nun ausnahmsweise nicht um eine jener melancholischen, erdverbundenen bis mysthisch ausgreifenden Kompositionen, wie sie für die Musik des Finnen typisch sind. Die Suite hat eher einen heiteren, manchmal fast verschmitzten Charakter, der über weite Strecken des dreiteiligen Werkes spürbar an tänzerische Assoziationen anknüpft. Das hat natürlich seinen Ursprung in der zugrunde liegenden Frauen- oder Mädchenfigur Mignon, die aus Goethes Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ stammt.

Diese Mignon ist eine sehr interessante Figur, weil sich in ihr diverse Sehnsüchte bündeln. Für Goethe ist sie die Gestalt gewordene Sehnsucht nach Italien, weshalb er sie auch das Lied singen lässt: „Kennst du das land, wo die Zitronen blüh’n“. Ihren Eltern geraubt, dann von Wilhelm Meister bei Zigeunern freigekauft, geht das 13- oder 14-jährige Mädchen singend und tanzend durchs Leben. Bildliche Darstellungen zeigen Mignon meist im schwingenden Zigeunerkleid mit Wanderbündel und Musikinstrument. Barfuss geht sie, den Kopf von langem, ungezähmtem Haar umweht. So oder ähnlich müssen auch die Darstellerinnen der Mignon-Figur in den Inszenierungen der gleichnamigen Oper von Ambroise Thomas aufgetreten sein.

Diese Oper wurde schon 1866 uraufgeführt und trug nicht unerheblich zur Popularität Mignons um die Jahrhundertwende bei. Mignon war zu jener Zeit ein beliebter Mythos, ähnlich berühmt wie später unsere Rheinnixe Loreley. Und wie diese war das Goethe-Mädchen eine zweischneidige Angelegenheit. Einerseits war sie der Inbegriff eines „lieblichen weiblichen Wesens“ wie es in einer alten Brockhaus-Ausgabe heißt.  Andererseits symbolisiert sie das Versprechen einer geschlossenen Blume auf alsbald prächtige Entfaltung. Bei Goethe bringen Zuneigung und Zärtlichkeit des Mädchens den Wilhelm bisweilen in arge „Verlegenheit“. Will sagen: Mignon ist auch eine frühe Lolita, ein Wesen, das wie Loreley ohne böse Absicht Männer um Anstand und Verstand bringen kann. Wofür weder Mignon noch Loreley etwas können – die Schuld liegt beim schwachen Manne allein. Nur um mich und auch Herrn Goethe  hier nicht Vollends in Verruf zu bringen, sei daran erinnert: Damals wurde ein 14-jähriges Mädchen als heiratsfähig betrachtet.

Als Sibelius 1921 seine Suite komponierte, war die Mignon-Geschichte in mancherlei Variationen in Europa weithin bekannt. Es könnte interessant sein, nachher einmal unter der Fragestellung zu lauschen, ob die Musik nur vom „lieblichen weiblichen Wesen“ handelt, oder ob auch der gefährlich lockende Aspekt der Kindfrau eine Rolle spielt. Rein äußerlich betrachtet, scheint das Werk eher harmlos: Der erste Satz steht im ¾-Tanztakt; der zweite Satz wird schon im Titel als Polka angekündigt;  der dritte Satz kommt im flotten 6/8-Takt daher und ist einer Gigue nicht unähnlich. Die Suite Mignon versammelt also durchweg Musik mit tänzerischem Charakter. So völlig unschuldig muss die Sache deshalb trotzdem nicht sein – schließlich wurden nicht eben wenige Liebschaften gerade beim Tanz begründet, entzündet und durch den Tanz ordentlich befeuert.

Damit bin ich am Ende meines letzten Vortrages in dieser Saison angelangt. Ich wünsche uns allen einen angenehmen Sommer, in dem es auch 2007 an Gelegenheiten zum Besuch klassischer Konzerte nicht mangelt. Die Festival-Landschaft blüht und ich darf sie zumindest auf vier Sommerkonzerte mit dem Staatsorchester Rheinische Philharmonie in der nächsten Umgebung und im Rahmen der Mittelrhein Musikmomente hinweisen:

Auf die schon Tradition gewordene Operngala mit Feuerwerk vor dem Koblenzer Schloss, mit der am 30. Juni das Festival eröffnet wird.
Am 15. Juli dann das, ebenfalls schon gute Tradition gewordene, KlassikPicknick-Konzert im Kurpark von Bad Salzig.

Keine Tradition, sondern völlig neu und etwas ganz Besonderes ist dann ein Konzerprojekt zum Abschluss der MMM: Alle fünf Klavierkonzerte von Beethoven, verteilt auf zwei direkt aufeinander folgende Abende – am 31. August und am 1. September in der Pilgerkirche zu Vallendar.

Ich hoffe, sie alle in der kommenden Saison an gleicher Stelle gesund und hellwach wiederzusehen. Viel Freude nun beim Konzert, und danke für Ihre Aufmerksamkeit.
                
 Andreas Pecht   
 
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