Vortrag
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2007-03-11 Konzerteinführung:
3. Orchesterkonzert im Görreshaus
zu Koblenz

Staatsorchester Rheinische Philharmonie unter Daniel Raiskin, Solist/Klarinette Karl Heinz Steffens. Programm: Grieg "Zwei elegische Melodien op. 34"; Brahms "Sonate für Klarinette und Klavier op.120/1" orchestriert von Berio; Rossini "Introduktion, Thema und Variationen für Klarinette und Orchester; Beethoven "Sinfonie Nr. 1".
 
ape. Meine sehr verehrten Damen und Herrn, liebe Musikfreunde,

herzlich willkommen zum 3. Orchesterkonzert im Görreshaus. Wir schreiben den 11. März, also könnte man es guten Gewissens zu unserem Frühlingskonzert erklären. Was man in Anbetracht des nicht stattgefundenen Winters witterungsmäßig allerdings auch vom vorherigen Konzert Ende Januar hätte sagen können. Also begrüße ich Sie einfach mal zu unserem zweiten Frühlingskonzert in diesem Jahr. Bleibt zu hoffen, dass ich Sie das nächste mal, am 29. April, nicht plötzlich statt zum Frühsommerkonzert bei einem Winterkonzert willkommen heißen muss. Man weiß ja nie heutzutage.
 
Ich nehme mal an, es geht vielen von Ihnen ganz ähnlich: Bei der Entscheidung, ob Sie ein Konzert besuchen wollen, oder wie jetzt, wo Sie sich quasi auf dem Weg in den Konzertsaal befindet – werfen Sie, wirft der Musikfreund generell für gewöhnlich einen Blick auf das Programm. Simple Fragestellung dabei: Was wird denn so gespielt? Und während Sie dann auf die angekündigten Programmpunkte schauen, beginnt der Hinterkopf zu sortieren: Kenn ich; kenn ich nicht; kenn ich vielleicht; den Titel habe ich schon mal gehört, an die Musik aber keinerlei Erinnerung. Bei manchem Konzert bezieht sich das Sortieren sogar auf die Komponisten, vor allem dann, wenn weitgehend unbekannte darunter sind. Wie beispielsweise beim Görreshauskonzert im vergangenen Dezember, wo mancher Besucher erstmals mit Gija Kantschely und Marc-Anthony Turnage Bekanntschaft schloss.

Beim Blick aufs heutige Programm gibt es hinsichtlich der Komponisten kein Vertun: Die kennt man samt und sonders, das sind bekannte Namen, renommierte Klassiker allesamt. Edvard Grieg, der Norweger, 1843 bis 1907; Johannes Brahms, der Deutsche, 1833 bis 1897; Giacomo Rossini, der Italiener, 1792 bis 1868; und Ludwig van Beethoven, noch ein Deutscher, 1770 bis 1827. Bei Herrn Rossini stutzt der eine oder andere vielleicht: Was tut der im Konzertsaal? Begegnen wir ihm doch allweil nur in der Oper, allenfalls noch in der Kirche. Jedenfalls verbinden wir mit Rossini in der Regel: Da wird gesungen. Keine Rede jedoch davon hier an diesem Sonntag: Heute wird im Görreshaus meines Wissens nicht gesungen, auch nicht bei Rossini. Das Stück „Introduktion, Thema und Variationen für Klarinette und Orchester“ ist eines der ganz wenigen reinen Instrumentalwerke, die Rossini komponiert hat. Dass ihm dabei der Gesang dennoch nicht aus dem Kopf kam, dazu nachher noch ein paar Worte.

Wir sind  noch beim ersten Blick aufs Programm. Und weil Musikern, Musikspezialisten sowie auch Einführungsrednern manchmal das Einfühlungsvermögen für das Gros ihres Publikums etwas abgeht, habe ich im Vorfeld mal drei Bekannte nach ihrem Spontaneindruck von diesem Programm befragt. Alle drei sind Leute, die 5 bis 8 mal pro Jahr ins Klassik-Konzert gehen, gelegentlich auch zuhause Klassik hören, aber weder beruflich mit Musik zu tun haben, noch sich als Klassik-verrückt bezeichnen würden. Musikalisch interessierte Menschen also, im Repertoire solide orientiert, aber keineswegs sattelfest. Ergebnis meiner Befragung: Zwar kannte jeder jeden der heute vertretenen Komponisten, doch deren angekündigte Werke fanden sich bis auf eines sämtlich unter der Kategorie „kenn ich nicht“ wieder. Es dürfte ihnen nicht schwer fallen, zu erraten, welches Stück den Befragten als einziges bekannt vorkam – richtig, Beethovens 1. Sinfonie.

Was sich allerdings – Achtung! – als Trugschluss herausstellte. Sobald ich den Versuchskaninchen die C-Dur-Sinfonie auf dem CD-Player anspielte, waren sie plötzlich nicht mehr so sicher, die erste der neun gewaltigen Beethoven-Säulen des Musikbetriebes WIRKLICH zu kennen. Umgekehrt ausgedrückt: In der direkten Hör-Konfrontation kam ihnen das Teil dann sogar ziemlich unbekannt vor. Nicht dass ich mich jetzt rühmen könnte, drei Angeber überführt zu haben. Vielmehr handelt es sich da um ein psychologisches Phänomen, das mit Erwartungshaltungen zu tun hat. Lassen Sie mich an dieser Stelle und später noch einmal einen kleinen Ausflug in die Psychologie machen:

Jeder halbwegs orientierte Musikfreund weiß, Beethoven hat neun Sinfonien komponiert. Die neunte – „Freude schöner Götterfunken“ – hat man schon mehrfach gehört; ebenso die sechste, die Pastorale; natürlich die fünfte „Schicksalssinfonie“ und die dritte, die „Eroica“. Man kennt auch die kämpferische siebte und die humorige achte Sinfonie. Die klassizistische vierte hat man vielleicht auch schon mal gehört. Dann aber wird es dünne - bei der zweiten, erst recht bei der ersten lässt der Bekanntheitsgrad deutlich nach. Freilich, ohne dass man sich dessen so recht bewusst ist. Alle Welt redet von neun Beethoven-Sinfonien, und deshalb glaubt jeder einfach, sie alle zu kennen, obwohl er in Wirklichkeit nur 6 oder 7 davon kennt. Das ist eine Art Rückkopplung von der ganzheitlichen Wahrnehmung des Werkkomplexes Beethoven-Sinfonien auf ein einzelnes Detail, die 1. Sinfonie. Solche Vorgänge spielen sich in unserem Kopf ständig ab, sie sind psychologisch völlig normal, auch wenn, wie in diesem Fall, eine Selbsttäuschung dabei heraus kommt.

In der Aufführungs- und Einspielungsstatistik spielt die erste Beethoven-Sinfonie tatsächlich nur eine untergeordnete Rolle. Eine Bestseller-Liste oder Hitparade der Beethoven-Sinfonien würde etwa so aussehen: Um die Spitzenposition ringen die neunte und die fünfte. Auf den Plätzen folgen die sechste und die dritte, danach die siebte und die achte, noch weiter hinten die vierte und die zweite. Die rote Schlusslichtlaterne würde mit ziemlichen Abstand die erste Sinfonie tragen. Die Musikwelt hat sich während der letzten 150 Jahre  vergleichsweise wenig mit dem Werk beschäftigt. Warum? Weil die Erste im Schlagschatten ihrer großen Nachfolger schlichtweg verschwand. Vielleicht sagt man besser: Die Menschen des 19. und des 20. Jahrhunderts fühlten sich von der Emphase vor allem der späteren Sinfonie unmittelbarer und tiefer gepackt, berührt, bewegt, aufgewühlt, erschüttert.

Beim Publikum zu Beethovens Lebzeiten war das übrigens noch anders. Lange gaben viele Zuhörer der Ersten den Vorzug, weil diese  doch noch deutlich an die gewohnte Klangwelt der Vorbeethovenschen Musikkultur erinnerte. Wie zu allen Zeiten, so eben auch damals: Das Publikum goutierte gerne das Bekannte – in der ersten Sinfonie fand es davon manches wieder, die späteren kamen den damaligen Konzertbesuchern noch etwas bizarr vor. Ein Resentiment, das wir 180 Jahre nach Beethovens Tod überhaupt nicht mehr nachvollziehen können.

Interessant die Haltung der Fachwelt, auch der Musikwissenschaft: Dort wurde die erste Sinfonie lange als Studie oder Stilübung Beethovens in der Kompositionsweise von Mozart und Haydn betrachtet und eben deshalb nicht sehr hoch gehandelt.

Damit wird Beethovens 1795 begonnener erster Versuch in der größten konzertanten Form freilich unterschätzt. Zumal es sich dabei auch um seinen ersten Vorstoß handelt, das Sinfonie-Wesen zu revolutionieren. Übrigens war die Hinwendung zur Sinfonie bei Beethoven kein Genieblitz, kein vom genialischen Geist verursachtes kreatürliches Vorwärtsdrängen, auch keine Reaktion etwa wohlfeile Kompositionsauftrage. Sein Schritt ins Sinfonie-Fach war ein reiflich überlegte und vorbereitete, wohl erwogene und sehr rationale Entscheidung, sich nunmehr auf dieses neue Arbeitsfeld zu begeben. Beethoven hatte sich zuvor mit allen möglichen anderen Gattungen vertraut gemacht und darin erprobt, bevor er sich für die Sinfonie reif fühlte.

Nochmal: Die Erste wurde lange als Studie über die Art der Vorgänger unterschätzt. Allerdings ist an dem Studiengedanken auch was dran. Orientierungen an Haydns Londoner Sinfonien, an Mozarts Linzer- und Jupiter-Sinfonie sind ohrenfällig. Und dennoch hebt vor allem die jüngere Literatur auf das damals Neue in der ersten Sinfonie ab: Etwa die kühne Dissonanz im ersten Akkord, die Stringenz und motivische Konzentration im gesamten ersten Satz, die doch deutliche Entfernung vom höfischen Tanzstil. Im Finale schließlich jenes Element, dass im Beethovenschen Pathos gerne überhört wird, und doch eines seiner psychologischen und musikalischen Wesensmerkmale ist: sein nie völlig verschwindener, manchmal sehr versteckt wirkender, im Schlusssatz der Ersten allerdings mit theatralischem Witz auftrumpfender Humor.

Schmunzeln muss ich allerdings auch, wenn ich in diversen Aufsätzen und einschlägigen Lexika aus den letzten Jahrzehnten sehe, wie da manche Damen und Herren Schreiber eifrigst bemüht sind, in die erste Sinfonie einen quasi vorgezogenen Großsinfoniker Beethoven hinein zu interpretieren. Das ist Humbug, und mit Verlaub: Sie werden nachher hören, eine richtig ausgewachsene Beethoven-Sinfonie ist die erste beileibe noch nicht.

Aber ich bin vorausgeeilt. Beethoven halt, da ist schwer bremsen. Wir waren bei der psychologischen Selbsttäuschung, die erste Sinfonie sei bekannt, obwohl sie es eher nicht ist. Warum reite ich auf diesem Punkt so ausgiebig herum? Weil die anderen Stücke des heutigen Konzertes in der Breite des Publikums ebenfalls eher wenig bekannte sind, obwohl von altbekannten, viel gespielten und oft gehörten Komponisten stammend. Diesen Umstand unterstreiche ich nicht nur, um die Originalität der Görreshauskonzerte hervorzuheben. Das auch. Und ein Programm wie im heutigen Fall - aus wenig bekannten Werken sehr bekannter Komponisten - darf schließlich mit Fug und Recht als interessant gelobt werden.

Worauf es mir aber eigentlich ankommt, ist die Weckung von Neugierde und damit verbunden die Schärfung der Aufmerksamkeit. Wir kommen noch einmal zur Psychologie. Hör- und Musikpsychologie wissen schon seit längerem von spannenden Phänomene im Verhalten von Konzertpublikum, von Musikrezipienten, von uns allen zu Tage. Die jüngere Hirnforschung bestätigt diese Phänomene. Darunter etwa dieses: Ist im Programm ein Werk angekündigt, das wir kennen und lieben, freuen wir uns gewöhnlich sehr darauf. Allerdings hören wir dann teilweise auch nur noch mit verminderter Aufmerksamkeit wirklich auf das, was im Konzertsaal geboten wird.

 Der Grund ist einfach: Vergleichsweise wenige Höreindrücke aus einem Musikwerk reichen aus, und das Gehirn vervollständigt aus dem Gedächtnis ganze Passagen. Das Gehirn greift zurück auf Erinnerungen an frühere Hörerlebnisse. Nehmen wir an, Sie erleben bei einem Konzert Beethovens sechste Sinfonie live. Wenn Sie seit Jahren daheim immer wieder mal ihre Lieblingseinspielung der 6. auf CD anhörten, kann folgendes Phänomen eintreten:  Im Konzert spielt zwar die Rheinische Philharmonie und Daniel Raiskin dirigiert, Sie aber hören vor dem geistigen Ohr die Interpretation der 6. etwa  durch die  Berliner Philharmoniker unter Herbert von Karajan hören. Das mag etwas überspitzt ausgedrückt sein, funktioniert aber im Grundsatz genau so. Gegen ihre geliebte Karajan-CD mit Beethivens 6. Sinfonie  haben alle anderen Orchester und Dirigenten einen richtig schweren Stand, ja das Problem, überhaupt wahrgenommen zu werden. 

Das Gehirn vervollständigt einige Töne, die Sie gerade im Konzert hören zu einem Gesamt-Höreindruck und zwar nach eigenem Gusto - wenn wir es lassen. Das geschieht umso intensiver, je mehr wir in Klängen baden, uns der Musik hingeben, das Bewusstsein ausschalten. Deshalb auch sieht man Musikkritiker meist verbissen konzentriert und selten glückselig lächelnd im Konzert sitzen. Das muss gar nichts über ihr Urteil  hinsichtlich der eben gebotenen Leistung der Musiker aussagen, sondern ist meist bloß der Anstrengung geschuldet, zu hören, was da gerade tatsächlich musiziert wird und sich nicht vom eigenen Gedächtnis irgendwas vorgaukeln zu lassen.

Das Phänomen der Vervollständigung oder Verfälschung von Höreindrücken durch unbewusste Erinnerungen hat aber auch eine Kehrseite. Weicht das Dargebotene sehr stark vom Erinnerten ab, stellt sich rasch regelrechtes Befremden ein. „Was machen die denn da?“, fragt man sich dann. Im Extremfall schießt einem der Gedanke durch den Kopf, was im Saal gerade musiziert wird, habe mit dem Original ja nun gar nichts mehr zu tun oder sei sogar falsch. Von Original kann aber in Wahrheit nicht die Rede sein – denn vielfach halten wir bloß diejenige frühere oder daheim häufig auf CD gehörte Interpretation für das Original, die in unser Hirn die stärksten Erinnerungsspuren eingegraben hat.

Es kann auch den Fall eintreten, dass eine gerade gehörte Interpretation die älteren Gedächtnisspuren überspielt und sich im Kopf nun zum neuen Maßstab der Dinge aufschwingt. Das kommt indes seltener vor als man denkt, und ein einmaliges Konzerterlebnis vermag es eigentlich gar nicht. Der langsame Satz der Pastorale in Raiskins Interpretation beim letzten Anrechtskonzert in der Rhein-Mosel-Halle beispielsweise hat auf nicht wenige Zuhörer einen tiefen Eindruck gemacht. Dass dieser Eindruck allerdings dauerhaft bleibt, ist eher unwahrscheinlich. Ich jedenfalls erinnere mich heute an den Sachverhalt, weil ich darüber in der Zeitung geschrieben habe. Den Klang jedoch kann ich schon nicht mehr vor mein geistiges Ohr zitieren – diesen Platz beherrscht bezüglich der 6. Sinfonie seit Jahren die Einspielung Claudio Abbados mit den Wiener Philharmonikern von 1986. Abbados Interpretation ist mein ganz persönlicher Ohrwurm; Sie oder Sie oder Sie haben einen anderen.       

Die Erwartungshaltung gegenüber unbekannten Stücken ist logischer Weise eine völlig andere als gegenüber bekannten. Im besten Fall ist es uneingeschränkte Neugierde und Offenheit. Es darf auch Skepsis sein. Oder, wie oft bei zeitgenössischen Werken, die Angst, etwas geboten zu bekommen, an dem man nun gar keine Freude haben könnte, gar Qualen erleiden müsste. Welche Haltung auch immer wir einnehmen, sie sorgt für Spannung und gesteigerte Aufmerksamkeit.  Bei der Angst vor dem Neuen, kann diese Aufmerksamkeit allerdings schon nach wenigen Augenblicken in blinde, ja blindwütige Ablehnung umschlagen.

Beim heutigen Konzert haben wir es mit einer besonderen Konstellation zu tun: Die Komponisten vertraut, die Stücke fremd. Die Fremdheit sollte Garant dafür sein, dass wir uns hellwach und neugierig auf die Stücke einlassen. Die Vertrautheit mit den Komponisten könnte indes auch in die gegenteilige Richtung wirken.
Ich muss gestehen, dass mein Vortrag in diesem Punkt etwas hinterhältig ist, denn er manipuliert, zumindest versucht er es: Je mehr Sie hier lang und breit mit besagten hörpsychologischen Phänomenen vertraut gemacht werden, umso größer die Wahrscheinlichkeit, dass Sie sich ihnen widersetzen. Was ja auch nicht das schlechteste wäre. Ich bitte trotzdem um Vergebung für versuchte Publikumsbeeinflussung.

Gehen wir noch einmal zurück zum ersten Blick auf das konkrete Konzertprogramm. Komponisten alle wohl bekannt, die Stücke eher weniger, haben wir festgestellt. Interessieren könnte einen auch, ob es irgendeine augenfällige innere Ordnung im Programm gibt. Die gibt es: Grieg – Brahms – Rossini – Beethoven, in dieser Abfolge werden die Stücke gespielt. Das ist eine strenge Chronologie, die läuft allerdings rückwärts durch die Musikgeschichte. Edvard Grieg lebte uns zeitlich am nächsten, er starb 1907. Dann gehen wir über Brahms und Rossini auf der Zeitleiste rückwärts bis wir zum Schluss beim 1770 geborenen Beethoven ankommen.

 Ist das wichtig fürs Konzerterlebnis? Muss nicht. Aber es könnte durchaus für den einen oder andern unter ihnen ein zusätzlich interessantes Moment sein, zumindest in einer Ecke des Hinterkopfes zu behalten, dass Sie es mit Werken aus verschiedenen Kulturepochen zu tun haben und wir einen Zeitraum von doch mehr als 100 Jahren durchschreiten. Rückwärts, wohlgemerkt. Kann ja nicht schaden, wenn man jeweils weiß, wo man sich historisch gerade herumtreibt.

Lassen Sie mich noch ein paar Anmerkungen zu den heutigen Stücken machen. Über Beethovens erste Sinfonie haben wir schon gesprochen. Dass Rossinis „Introduktion, Thema und Variationen für Klarinette und Orchester“ eines der wenigen Instrumentalwerke des Italieners und späteren Wahl-Parisers ist, wurde ebenfalls schon gesagt. Sie werden allerdings nachher im Konzert unschwer hören, dass der große Opernkomponist Rossini seinem Kernmetier auch bei diesem reinen Instrumentalstück treu geblieben ist. Andersrum: Vielleicht hat ihn die so sehr an die menschliche Singstimme erinnernden Ausdrucksmöglichkeiten der Klarinette erst motiviert, ein Stück für das schwarze Blattblasinstrument zu komponieren. Jedenfalls erinnern die Solopartien stark an Gesangsrollen für eine Operndiva. Und die hat im Mittelpunkt zu stehen, hat ihr Können zu beweisen: Also erleben wir Koloraturen, Spitzentöne, überhaupt ein Feuerwerk von solistischer Virtuosität ebenso reichlich wie dramaturgische und theatralische Anklänge an die Oper.

Da ist es dann von Vorteil, wenn man einen Klarinettisten von Format bei der Hand hand, wie Karl Heinz Steffens einer ist. Umso so schöner, wenn es sich dabei, wie in diesem Fall, quasi um ein heimischen Spross handelt, der draußen in der großen Musikwelt etwas geworden ist: Steffens ist in Trier gebürtig, hat als Jugendlicher im Landesjugendorchester Rheinland-Pfalz mitgespielt und hat u.a. beim Villa-Musica-Dozenten Ulf Rodenhäuser gelernt. Seit 2001 ist Steffens Soloklarinettist bei den Berliner Philharmonikern, was per se als Empfehlung erster Klasse gelten kann.

Herr Steffens kommt heute nicht nur beim Rossini-Stück zum Einsatz, sondern vorher auch bei Johannes Brahms Sonate für Klarinette und Klavier f-Moll. Für Klarinette und Klavier? Wo das hier doch ein Orchesterkonzert, kein Kammerkonzert sein soll? In der Tat hat Brahms dieses Werk und noch eine weitere Klarinetten-Sonate für die Kammermusik gedacht und geschrieben. Die beiden 1894 entstandenen Sonaten waren seine letzten Kammermusikwerke. Wir bekommen das f-Moll-Opus 120/1 jedoch gleich in einer Version für Klarinette und Orchester zu hören. Die hat nicht Brahms selbst eingerichtet, sondern der italienische Gegenwartskomponist Luciano Berio. Ob Brahms das gefallen hätte, ist leider nicht feststellbar, denn Berio kam erst 28 Jahre nach dessen Tod in Wien zur Welt. Die Orchestrierung stammt aus dem Jahr 1984 und war eine Auftragsarbeit des Los Angeles Philharmonic Orchestra.

Die Überlegung, die Sonate für Klarinette und Klavier zu Orchestrieren ist allerdings naheliegend. Wie überhaupt bei vielen kammermusikalischen Werken von Brahms, in denen es einen Klavierpart gibt, der Orchestergedanke sich geradezu aufdrängt. Denn von der Strukturierung Brahmsscher Klavierpartien und ihrer Ausstattung mit  überbordender klanglicher Fülle geht ein starker Drang hin zum Orchestralen aus. Den griff beispielsweise auch Arnold Schönberg auf, als er die Orchesterfassung des Klavierquartetts g-Moll von Brahms schuf.  

Die originale  Brahms’sche Sonate spielt mit den Ausdrucksmöglichkeiten der Klarinette. In gesanglichen, volksliedhaften, warmherzigen und vergnügt tänzerischen Passagen werden die Potenziale des Instruments über drei Oktaven aufgefächert. Dieser Geist bleibt bei Berio sehr schön erhalten. Es tritt aber auch eine weitere Dimension hinzu: Die Orchesterbearbeitung ist nämlich auch Interpretation des Brahmsstückes und zugleich eine Hommage Berios an den von ihm sehr verehrten Komponisten.  Daher vielleicht mögen jene majestätischen Anmutungen in der Orchesterfassung kommen, die im kammermusikalischen Original so ausgeprägt nicht wahrzunehmen sind. 

Sie haben es bemerkt: Das Konzert geht historisch rückwärts von Grieg zu Beethoven, während meine Vorstellung der Stücke sich chronologisch bewegt, von Beethoven Richtung heute. Weshalb wir zum guten Schluss jetzt bei den ersten beiden Werken angekommen sind, mit denen das Konzert gleich beginnt: Edvard Griegs Opus 34, „Zwei elegische Melodien für Streichorchester“. Die erste führt den Titel „Herzwunden“, die zweite heißt „Letzter Frühling“. Auch dabei handelt es sich, wie bei Brahms, um Orchestrierungen ursprünglich kleinerer Formate. In diesem Fall hat allerdings Grieg selbst 1880 die Orchesterfassungen hergestellt.     
„Herzwunden“, „Letzter Frühling“ – nach Ausgelassenheit und Freundentänzen klingt das nicht gerade. Soll es auch nicht, weil die Musik nicht danach ist. Und das hat mit der dichterischen Vorlage für die beiden Kompositionen zu tun. Der Norweger Grieg stützte sich wie Sibelius, sein quasi nachbarschaftlicher Verwandter in Finnland, vielfach auf heimische Lieder, Mythen, Texte. Im Falle der „Zwei elegischen Melodien“ handelt es sich um Gedichte von Aasmund Olafsson Vinje. Die Gedichte waren betitelt: „Der Verwundete“ und „Der Frühling“. Hören wir dazu Edvard Grieg selbst: „Die tiefe Traurigkeit dieser Gedichte ist der Hintergrund für den feierlichen Klang der Musik“, schrieb er. Deshalb habe  er sich entschlossen, „ihren Inhalt deutlicher hervorzuheben, indem ich ihnen ausdrucksvollere Überschriften gab – ‚das verwundete Herz’ und ‚der letzte Frühling’.“ Der Komponist selbst führte die „zwei elegischen Melodien“ als Dirigent bei seinen Konzertreisen immer wieder auf. Seine gefühlsbetonte Interpretation habe  bei den Zuhörern stets denselben überaus starken Eindruck hervorgerufen, berichten Zeitzeugen.

Freuen wir uns also jetzt auf starke Eindrücke sehr unterschiedlichen Zuschnitts. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. 

Andreas Pecht
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