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2007-01-28 Vortrag:
Raiskins Abschied von der Bratsche

Einführung zum 2. Koblenzer Görreshauskonzert 07 mit Faurés "Pelleas et
Melisande", Schnittkes "Monolog für Viola und Streicher", Mendelssohns 1. Sinfonie 
 
ape. Meine sehr verehrten Damen und Herrn, liebe Musikfreunde,
ich darf Sie recht herzlich zum zweiten Görreshauskonzert der Saison begrüßen.

Wer dabei war, wird sich vielleicht erinnern, dass wir beim vorigen Konzert im Dezember an dieser Stelle recht ausführlich über Licht- und Schattenseiten der Liebe gesprochen haben. Das Programm jenes Konzertes war danach, die gespielten Werke von Sibelius, Kantschely und Turnage drehten sich allesamt um dieses ewig wichtige Thema. Daran knüpft der heutige Nachmittag an, sowohl im verbalen Prolog jetzt und hier, als auch nachher im musikalischen Hauptteil. Die Akzente verschieben sich freilich ein bisschen. Außermusikalische wie innermusikalische Faktoren bieten als rahmende Devise für das heutige Konzert den Begriff „Abschied“ an.
 
In Gabriel Faurés Komposition „Pelleas und Melisande“, mit dem das Orchester nachher beginnt, geht es um Abschied von der Liebe und vom Leben. Mit seiner 1. Sinfonie, die unser Konzert beschließen wird, nahm der jugendliche Felix Mendelssohn Bartholdy Abschied von der Kindheit. Das Mittelstück des Programms schließlich – Alfred Schnittkes Monolog für Viola und Streicher – wird vom Solisten des Tages, wird von Daniel Raiskin als Abschiedsgesang von seiner Karriere als Konzertbratscher verstanden.

Aber der Reihe nach.

Der Titel „Pelleas und Melisande“ dürfte Ihnen bekannt vorkommen? Richtig, ein Stück gleichen Namens wurde hier schon beim vorigen Mal gespielt. Natürlich eine andere Komposition: Es war die Suite op. 46 vom Finnen Jean Sibelius, dessen 50. Todesjahr die Musikwelt 2007 begeht. Heute nun hören wir eine Verarbeitung desselben Sujets  durch den Franzosen Gabriel Fauré.

Der 1845 in der südfranzösischen Provinz geborene und 1924 in Paris gestorbene Mann war höchstwahrscheinlich der erste Musiker, der sich mit dem symbolistischen Drama „Pelleas et Melisande“ aus der Feder des belgischen Schriftstellers und Literaturnobelpreisträgers Maurice Maeterlink befasste. Zuerst entwarf Fauré im Auftrag des Prince of Wales Theatres in London 1898 eine Musik für dieses Schauspiel, das seit seiner Uraufführung 1893 in Paris quer durch Europa viel beachtet wurde. Später schuf er eine erst dreisätzige, nachher auf vier Sätze erweiterte Orchestersuite, die wohl als Faurés bedeutendstes Orchesterwerk gelten kann.

Für beide Fassungen, sowohl für die Bühnenmusik als auch die Suite, spielten – wie so oft im Leben männlicher Künstler - Frauen eine nicht unbedeutende Rolle. Im ersten Fall gab der Wunsch der damals in England berühmten Schauspielerin Mrs. Patrick Campbell den Ausschlag, dass Fauré den Kompositionsauftrag für die Bühnenmusik erhielt. (Die Orchestrierung der Theatermusik überließ der Komponist aus schierer Zeitnot übrigens einem seiner Pariser Studenten.) Die zweite Frau im Spiel wird mit der Widmung der Suite dingfest gemacht: Princess Edmonde de Polignac. Sie war Veranstalterin eines bedeutenden Künstlersalons in Paris und über viele Jahre Faurés wichtigste Mäzenin.

Wie es sich bei beiden Damen verhielt, ob ihre Zuneigung mehr dem Manne oder seiner Kunst galt, wissen wir nicht. Was wir allerdings wissen, ist, dass Gabriel Fauré als charamanter, unterhaltsamer, geistreicher Zeitgenosse galt. Dass er als ebenso glänzender wie kurzweiliger Improvisateur am Klavier gern gesehener Gast bei Gesellschaften war. Und wir wissen, dass die Pariser Damenwelt von ihm als einer überaus attraktiven Erscheinung schwärmte. Was wohl eine vom Zeitgeist abhängige Geschmacksfrage ist, denn auf zeitgenössischen Porträts des älteren Fauré fällt vor allem dessen opulenter Schnauzbart ins Auge. Der stellt sogar denjenigen unseres Günter Grass bei weitem in den Schatten.

Aber wie ungerecht die Welt bisweilen mit ihren Künstlern umgeht, lässt sich an der Lebensart dieses Mannes gut sehen. Denn Fauré war gezwungen, ein Doppelleben zu führen. Vormittags mühte er sich in der ganz mies bezahlten Position des Chorleiters an der Eglise de la Madeleine. Nachmittags sah man ihn durch die Pariser Straßen von einem Privatschüler zum nächsten hetzen. Am Abend erst schlüpfte er dann für die Salons in die Rolle des weltgewandten Kompositeurs und Musikus. Trotz der Protektion durch seinen Klavierlehrer und lebenslangen Freund Camille Saint-Saens nahm das offizielle Musikleben Frankreichs von Fauré lange keine Notiz. Sein Makel: Anders alle damals angesehenen französischen Komponisten hatte er nicht am geheiligten Pariser Konservatorium studiert.
 
Fauré musste  50 Jahre alt werden, bis der etablierte Betrieb ihn anerkannte. Dann stieg sein Stern freilich sehr schnell: 1905 wurde er völlig überraschend zum Direktor eben dieses Konservatoriums gewählt – das er sogleich mit einem derart kompromisslosen Reformsturm überzog, dass ihm seine Gegner entsetzt den Beinamen „Robespierre“ anhängten. Was Fauré dann als Lehrer und Direktor ins Werk setzte, hat nachher nicht nur im französischen Musikschulwesen pädagogisch fortschrittliche Spuren hinterlassen. Aber das ist ein anderes Thema.

Fauré war also der erste, der sich mit „Pelleas et Melisande“ auseinandersetzte. Ihm folgte Claude Debussy mit der gleichnamigen Oper, Arnold Schönberg mit seiner Sinfonischen Dichtung sowie – ich sagte es bereits - Jean Sibelius mit ebenfalls einer Bühnenmusik und einer Suite. Diese vier sind nicht die einzigen, aber die bekanntesten musikalischen Verarbeiter von Maeterlinks Drama, das als Hauptwerk des literarischen Symbolismus gilt. Es ist eine sich schwer aufs Gemüt legende, tieftraurige, auch ziemlich mysthische Geschichte, die in ihrer Ganzheit – vom Sprachgebrauch über die dramaturgische Konstruktion bis zur Story selbst – als Symbol für die dunkle Schicksalhaftigkeit des menschlichen Seins gesehen werden kann.

Es geht um ein Mädchen, Melisande, zwischen zwei Halbbrüdern. Von denen ist der eine ihr Retter und Gemahl, während sie den anderen, Pelleas, liebt und der sie. Doch zwischen den beiden Liebenden geschieht de facto nichts Verwerfliches. Sie kommen nicht zueinander, weil sie nicht können. Eine verbotene, aber nicht gelebte Liebe und die Eifersucht des Gemahls bringen Melisande schließlich den Tod.

Eine Reihung von neun weitgehend voneinander unabhängigen musikalischen Stimmungsbildern hatte Sibelius diesem Sujet gewidmet. Bei Fauré sind es nun vier Teile, die deutlicher aufeinander und auch auf die theatralischen Intentionen des Dramas bezogen sind. Dunkle, ja düstere Klänge dominieren; der Grundton von tragischer Unerreichbarkeit der Liebe, von Verlust, von Abschied ohne nachfolgenden Aufbruch, von Tod  - dieser Grundton prägt gewissermaßen die gesamte Komposition. Das Prelude des Anfangs lässt gleich eine Eigenart von Faurés Oeuvre aufscheinen: Expressivität; diese aber wie gezügelt, reduziert, von allzu heftigem Sentiment befreit. Diese eigenartige, aber berührende Machart – ich will sie mal „bescheiden gemachte Tragik“ nennen - begegnet uns wieder im vierten Teil, dem „Molto adagio“, das abschließend den Tod Melisandes beklagt.

Haben wir es bei jenem Mädchen mit einem Abschied von der Liebe und vom Leben zu tun, der nirgendwo hinführt, so steht uns mit dem zweiten Werk des heutigen Konzertes ein Abschied ganz anderer Art ins Haus. Nämlich ein Abschied, der einem Aufbruch geschuldet ist – und der wie alle Abschiede, an die sich Aufbrüche zu neuen Gestaden anschließen, Wehmut und freudiges Vorausschauen gleichermaßen umfasst. Sie alle wissen, dass Daniel Raiskin, der Chefdirigent der Rheinischen Philharmonie, als Solobratscher in der Musikwelt bekannt und berühmt geworden ist. Mit Alfred Schnittkes „Monolog für Viola und Streicher“ aus dem Jahr 1989 will und wird er sich heute von diesem Lebens- und Schaffensabschnitt verabschieden. Dieser Abschied von einer großen Solistenkarriere fällt, wenn ich richtig orientiert bin, auf Raiskins 37. Geburtstag. Ich gratuliere von dieser Stelle aus herzlich zum Geburtstag.

Warum macht er das? Warum hängt Raiskin die Bratsche an den sprichwörtlichen Nagel - jenes Instrument also, das ihn von seiner Kindheit in St. Petersburg an begleitete? Warum gibt er eine international erfolgreiche Instrumentalistenkarriere auf, die ihn zu einem der führenden Bratschisten in Europa gemacht hat? Klar ist, und er bestätigte mir das in zwei Gesprächen: Leicht fällt ihm dieser Abschied nicht. Wie sollte er auch? Die Bratsche war schließlich ein zentrales Element seines bisherigen Lebens, eines der wichtigsten Ausdrucksmittel des in Russland geborenen und aufgewachsenen Mannes mit hernach holländischer Staatsbürgerschaft und jetzt deutschem Arbeitsplatz. Warum also tut sich Raiskin eine solch schmerzhafte Trennung an?

Die Antwort lautet: Um sich fortan ganz aufs Dirigentenfach zu konzentrieren. Raiskin steht zwar schon seit etlichen Jahren regelmäßig am Dirigentenpult diverser hochkarätiger Orchester. Aber seit er mit der Rheinischen Philharmonie für ein „eigenes“ Orchester als Chefdirigent hauptverantwortlich geworden ist, erweist sich die Doppelkarriere Dirigent und Solobratscher verstärkt auch als Doppelbelastung. Und wenn, wie in diesem Fall, einer stets höchste Qualitätsansprüche an alles legt, was er tut, drängt sich die Notwendigkeit einer Entscheidung, einer Schwerpunktsetzung irgendwann zwangsläufig auf.  Der Chefdirigent drückte es in einem Interview, das ich vor einiger Zeit mit ihm führte, so aus: „Man kann auf Dauer nicht in beiden Fächern jene Güte erreichen, die von mir erwartet wird, die ich auch selbst von mir verlange. Ich musste eine Wahl treffen.“

Die hat er getroffen, sie fiel zugunsten des Dirigierens aus. Mithin ist dieser Abschied zugleich ein Aufbruch. Dass Raiskin sich grundsätzlich für eine Schwerpunktsetzung und gegen ein Dasein als musikalischer Multifunktionalist entschied, dazu kann man ihn nur beglückwünschen. Denn es hat sich gerade in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten, von den Lockungen des Marktes verführt, schon mancher hoffnungsvolle Musiker überhoben. Gleichzeitig das Konzertpiano spielen UND dabei ein Orchester dirigieren UND obendrein den launigen Konzert-Conferencier mimen – dabei kommt schon nach ein paar Jahren alles mögliche heraus, aber gewiss kein wirklich internationales Spitzenniveau mehr; weder am Piano, noch am Dirigentenpult.

Fürs hiesige Publikum hat Raiskins Abschied von der Bratsche freilich auch ein bisschen eine tragische Komponente: Sein heutiger letzter Auftritt als Solobratscher ist an seiner Wirkungsstätte Koblenz zugleich sein erster. Wir werden also nachher sein Können am Instrument hier erstmals und leider auch letztmals bewundern dürfen. Bleibt als kleiner Trost: Raiskin hat nicht ausgeschlossen, gelegentlich in kammermusikalischem Rahmen wieder zur Bratsche zu greifen.

Warum hat er ausgerechnet Schnittkes „Monolog für Viola und Streicher“ für den heutigen Anlass ausgewählt? Weil es nach seiner  Überzeugung das bedeutendste Bratschenkonzert des 20. Jahrhunderts ist. Und, weil es ihm ganz besonders am Herzen liege. Er spricht von einem intensiven Schostakowitsch-Gestus in dem Werk; von dessen geistiger Tiefe; von einer Trauer, die allerdings mehr philosophisch sei, als dass sie die Welt beweine. Einer meiner Kritikerkollegen beschrieb den „Monolog“ einmal als „bekenntnishaft wirkendes Stück von verinnerlichtem Schmerz“, das sich wie eine dramatische Gesangsszene gestalten lasse.

Wie so oft bei der zeitgenössischen Musik, so gilt auch in diesem Fall: Der Zuhörer muss sich öffnen, muss sich einlassen. Denn Schnittke bietet zwar allerhand Spannendes. Was er  indes nicht bietet, ist ein Bad in harmonischen Schönklängen klassisch-romantischen Zuschnitts. Hochexpressiv bis in die Zweistimmigkeit ist die Solopartie; mal in warmem Vollton, mal rau, mal schier aufschreiend – und das vor einem ziemlich dissonant strukturierten Streicherhintergrund.

Der 1934 in der damaligen autonomen wolgadeutschen Sowjetrepublik geborene Schnittke lebte die letzten 20 Jahre bis zu seinem Tod 1998 in Deutschland. Mehr über das schwierige Leben und interessante Arbeiten des Komponisten können Sie im Programmheft nachlesen. Ich will, passend zum heute von ihm gespielten Stück, nur noch kurz auf sein Konzertverständnis eingehen. Das nämlich unterscheidet sich ein bisschen von demjenigen, das wir etwa von Beethoven kennen. Hören wir, wie Schnittke selbst die Beziehung zwischen Orchester und Solist sieht:
„Im Konzert interessieren mich Solist und Orchester, ihre Wechselwirkung und Wechselbeziehung während des gemeinsamen Musizierens.“ Soweit, meine Damen und Herren, würde Beethoven das auch unterschreiben. Dann aber Schnittke weiter: „Diese Beziehung erschien mir nie harmonisch-ausgewogen und ausbalanciert. Sie ist eher kontrastreich und polemisch. Solist und Orchester sind eigentlich Kontrahenten.“ Vielleicht nehmen sie dies einfach mal als Höranregung mit ins Konzert und beobachten, ob und wie Solist Daniel Raiskin und sein Orchester sich als Schnittkesche Kontrahenten zusammenraufen.

Eine kleine Bemerkung noch zu einem interessanten Phänomen des rheinland-pfälzischen Musiklebens. In unserem Bundesland lag das Hauptgewicht der Schnittke-Pflege während der letzten Jahre in einem Kulturbereich, der sie vielleicht etwas überraschen wird: nämlich nicht beim Konzert, sondern beim Ballett, speziell bei Martin Schläpfers ballettmainz. Der Ballett-Chef selbst  hat beispielsweise Schnittkes Concerto grosso Nr. 2 und dessen Drittes Klavierkonzert choreografiert. Der junge Mainzer Hauschoreograf Nick Hobbs - der zurzeit hier in Koblenz mit Anthony Taylor einen Ballettabend vorbereitet – hatte im vergangenen Jahr mit großem Erfolg die 2. Violinsonate von Schnittke vertanzt. Überhaupt erfreut sich das Schnittke-Oeuvre in der Ballettsparte erstaunlicher Beliebtheit. Offenbar gibt es zwischen der Körperlichkeit des Tanzes und der Musik Schnittkes Korrespondenzen, die dem bloßen Hörer nicht gleich auffallen. Der Komponist persönlich hatte durchaus eine Affinität zur Tanzkunst. Die führte vor Jahren sogar dazu, dass Schnittke und der große Choreograf John Neumeier gemeinsam ein Ballett entwickelten.

Kommen wir nun zum dritten und letzten der „Abschiede“ im  heutigen Konzert: Felix Mendelssohn Bartholdys Abschied von der Kindheit in Form seiner Sinfonie Nr. 1 c-Moll. Sie ist im Jahre 1824 entstanden. Der 1809 in Hamburg geborene Felix war also gerade mal 15 Jahre alt. Der pubertäre Eigensinn des jungen Burschen führte zu einer gewissen Verwirrung, was die Nummerierung dieser Sinfonie angeht. Denn eigentlich war es schon seine 13. – vorausgegangen war zwischen 1821 und 1823 das Komponieren von stolzen 12 Streichersinfonien. Und im Autografen wird die später Erste benannte noch ausdrücklich als 13. Sinfonie ausgewiesen.

Sie müssen sich also folgendes vorstellen: Ein Bub komponiert zwischen seinem 12. und seinem 14. Lebensjahr ein Dutzend Streichersinfonien. Die gehen ihm leicht von der Hand, die Orientierung an Vorbildern wie zuerst Carl Philipp Emanuel Bach, dann Haydn und Mozart ist hilfreich. Als der Bub reift, ernster wird, tiefer denkt und bald glaubt, sich als Mann fühlen zu können, mögen ihm diese Arbeiten kindisch vorgekommen sein. Wir alle kennen das Phänomen aus unserer eigenen Jugend bzw. der Jugend unserer Kinder respektive Kindeskinder: Was eben noch Lieblingsspielzeug war, wird plötzlich verschämt auf den Dachboden abgeschoben oder demonstrativ aus dem Fenster geworfen. Künstler sind auch nur Menschen, Genie hin oder her. Deshalb mochte der jugendliche Felix Mendelssohn Bartholdy von einer Drucklegung seiner kindlichen Werke überhaupt nichts wissen und datierte selbst seinen Einstieg ins ernsthafte Musikerleben auf die Fertigstellung der c-Moll-Sinfonie. Welcher er dann nach eigener Logik nachher die Nummer 1 verpasste.

Eine Entscheidung die im Übrigen auch aus heutiger Sicht durchaus Sinn macht. Denn zwischen der 12. Sinfonie alter Zählung und der 1. neuer Zählung liegen tatsächlich Welten. Das auch musikalische Erwachsenwerden von Felix muss 1823/24 in gewaltigen Schüben vonstatten gegangen sein. Nicht umsonst wohl schlug sein Kompositionslehrer Carl Friedrich Zelter den Burschen unter dem euphorischen Ausruf „im Namen Mozarts, im Namen Haydns und im Namen des alten Bach“ zu seinem Gesellen. Den zu diesem Zeitpunkt noch lebenden Beethoven hat Zelter vergessen, nicht jedoch offenbar sein Schüler. Denn neben stilistischen Anregungen von Mozart sind auch solche von Beethoven in der 1. Sinfonie unverkennbar.

Dieser Felix muss ein überaus lernbegieriger Typ gewesen sein, offen für alles, neugierig auf jede Musik seiner Zeit und vor seiner Zeit. Und doch entwickelte er schon als 15-Jähriger eine eigene, eine persönliche Handschrift. Zelter mag mit den Zähnen geknirscht haben, weil sein Schüler im Kopfsatz der Ersten recht unverfroren von der schulmäßigen Sonatenform abweicht. Im zweiten und dritten Satz meint man dann eine ganze Reihe von Anlehnungen an Haydn, Mozart und Beethoven zu vernehmen. Im Schlusssatz Allegro con fuoco müssen wir dann allerdings den Hut ziehen vor der eigenständigen Leistung eines hörbar früh gereiften Talents: Es handelt sich dabei um einen Sonatensatz, dessen Durchführung in ihrer stringenten Kontrapunktik schier meisterlich geraten ist.

Dazu hätte wohl auch der alte Bärbeißer Johann Sebastian Bach anerkennend genickt.  Ob Felix sich in diesen frühen Jahren schon mit Bach beschäftigt hat, wissen wir nicht. Aber es könnte durchaus sein, zählte doch sein Lehrer Zelter in jener Zeit zu den wenigen Menschen, die überhaupt von Bach wussten. Womit ich an jenem Punkt angekommen wäre, wo zu erklären ist, warum der Abschied Felix Mendelssohn Bartholdys von der Kindheit ein Aufbruch in ein zwar sehr kurzes, aber in mehrfacher Hinsicht für die Musikwelt und die Musikgeschichte sehr wichtiges Erwachsenenleben war.

Felix wurde nur 38 Jahre alt, und doch hinterließ er ein Oeuvre, das bis auf den heutigen Tag wirkt und aus dem Musikleben gar nicht wegzudenken ist. Er starb am 4. November 1847 in Leipzig. Dort war er von 1835 an Kapellmeister des Gewandhauses, das durch ihn zu einem musikalischen Zentrum von europäischem Gewicht wurde. Mit Nachwirkungen bis auf den heutigen Tag. In Leipzig gründete er 1843 das erste Konservatorium Deutschlands. Ebenfalls eine Initiative mit weitreichenden Nachwirkungen für das Musikleben bis in die Gegenwart.

Die stärkste Nachwirkung rührt allerdings von Mendelssohn Bartholdys Verdienst, Johann Sebastian Bach dem Vergessen entrissen zu haben. Denn am Ende des 18. und in den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts herrschte im deutschen Musikleben eine Situation, die wir uns überhaupt nicht vorstellen können. Vom vergleichsweise kleinen Kern interessierter Berufsmusiker, Fachleute und Liebhaber abgesehen, wusste zu jener Zeit kaum jemand noch etwas mit dem Namen des 1750 verstorbenen Thomaskantors  anzufangen. Er war aus dem Bewusstsein des Publikums wie der meisten Akteure einfach verschwunden.

Stellen Sie sich vor, Shakespeare würde für fast 100 Jahre an keinem Theater mehr gespielt, oder Beethoven wäre Ihnen ein Unbekannter. So ähnlich war das damals mit dem alten Bach – und erst Felix Mendelssohn Bartholdy bereitete diesem unmöglichen Zustand am 21. März 1829 ein Ende. An diesem Tag dirigierte er in der Berliner Singakademie die Wiederaufführung der „Matthäus-Passion“  - und setzte damit ein Lernen vom größten der alten Meister in Gang, das noch immer anhält.

Gedankt wurde Felix dafür in Deutschland schlecht. Denn es sollte nicht allzu lange dauern bis Wagnerianer und Antisemiten mit jenem Ungeist loslegten, den der Kritiker Eduard Hanslick so beschrieb: „In Hass und Überhebung betrieben sie ihr trauriges Geschäft.“ Das fand seine beschämende Fortsetzung über die schrecklichen 12 Jahre nach 1933. Aber auch das ist ein anderes Thema.

Genug geredet, wenden wir uns nun dem Musikerlebnis selbst zu. Mit dem Hinweis schon auf das nächste Görreshauskonzert am 11. März darf ich für Ihre Aufmerksam danken und ihnen jetzt viel Freude bei Abschieden und Aufbrüchen wünschen.     

Andreas Pecht
 
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