Thema Vortrag
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2006-12-12 Konzerteinführung:
1. Görreshaus-Orchesterkonzert in der
neuen Saison 06/07


Sibelius' "Rakastava" sowie "Pelleas und Melisande", Kantschelis "Nachtgebete",
Deutsche Erstaufführung "Hidden Lovesong" von Mark-Anthony Turnage. Daniel Raiskin dirigiert das Staatsorchester Rheinische Philharmonie in seinem Koblenzer Stammhaus.
 
ape.  Das nachfolgend abgedruckte Vortragsmanuskript weicht von der gesprochenen Version in einigen wenigen Punkten etwas ab. Das betrifft  vor allem die Reihenfolge der Stücke, die vom Dirigenten kurzfristig noch einmal umgestellt wurde.
 
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Musikfreunde,

seien Sie herzlich willkommen zum ersten Görreshaus-Orchersterkonzert der Saison 06/07. Für diejenigen unter Ihnen, die während der vergangenen beiden Jahre noch keine Gelegenheit hatten, an meinen Konzerteinführungen teilzunehmen, darf ich mich  kurz vorstellen: Mein Name ist Andreas Pecht, ich bin von Beruf freier Journalist mit dem Arbeitsschwerpunkt Kultur und Geistesleben, wozu im Besonderen auch die klassische Musikkritik zählt. Die Intendanz des Staatsorchesters Rheinische Philharmonie hat mich gebeten, Sie während eines knappen halben Stündchens vor jedem Konzert auf selbiges einzustimmen.

Gewünscht ist dabei kein musikwissenschaftliches Hauptseminar, gewünscht sind interessante Informationen nebst möglichst gescheiten, aber ebenso kurzweiligen Gedanken über die Stücke und Komponisten, die im nachfolgenden Konzert eine Rolle spielen.

Lassen Sie mich die heutige Konzerteinführung mal auf eine etwas ungewöhnliche Art beginnen – mit einem Gedicht. Genauer gesagt, mit einem Liebesgedicht. Sie werden sehen, das hat seine Berechtigung. Denn die Stücke, die Chefdirigent Daniel Raiskin für das heutige Programm ausgesucht hat, und die er nachher auch dirigieren wird, besingen alle miteinander das gleiche Thema, wenn auch auf sehr unterschiedliche Art und Weise: die Liebe – die unsterbliche, die Himmelsmacht, die glückselig machende oder auch arge Qualen bereitende. Hören sie also ein kleines „Liebes-Lied“ von Rainer Maria Rilke:

"Wie soll ich meine Seele halten, daß
sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie
hinheben über dich zu andern Dingen?
Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas
Verlorenem im Dunkel unterbringen
an einer fremden stillen Stelle, die
nicht weiterschwingt, wenn deine Tiefen schwingen.
Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.
Auf welches Instrument sind wir gespannt?
Und welcher Spieler hat uns in der Hand?
O süßes Lied."

Nein, wir interpretieren und diskutieren Rilke jetzt nicht aus, sondern lassen, was er anstimmt, sehr gern einfach im Raume stehen. Liebesgefühle ausdiskutieren zu wollen hilft Liebenden nicht und Ex- Liebenden erst recht nicht. Für unseren Zweck genügt festzustellen, dass Liebe selbst dort, wo sie glücklich gelebt wird, eine zweischneidige Angelegenheit ist:  Rilke bekennt des Liebenden Unfähigkeit, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen als der Geliebten. Klarsichtig erkennt der Liebende diese Malaise, aber sie ist ihm völlig wurscht. Neue, frische, stürmische Liebe hat eben weniger mit Vernunft, mehr mit Wahnsinn zu tun. 

Die Zweischneidigkeit der Liebe wird uns in der Musik am heutigen Nachmittag mehrfach begegnen. Denn frohes Erwarten und quälendes Sich-Verzehren liegen im Gefühlsspektrum unmittelbar nebeneinander, die Übergänge können fließend sein. So fließend wie die Übergänge zwischen Liebe und ihrer Galle speienden Abart, der Eifersucht oder ihrem dann bald sehr nahe liegenden Gegenteil, dem Hass. Die deutsche Sprache kennt sogar das Wort „Hassliebe“, das  scheinbar unvereinbare Gefühle miteinander verschmilzt. Ganz so tragisch geht es in „Rakastava“ von Jean Sibelius zwar nicht zu, aber „Der Liebende“ – so der Werktitel auf Deutsch – hat schon allerhand Spannung zwischen Herzensfreud und Herzeleid auszuhalten, bis er die Geliebte in die Arme schließen darf. Um sie gleich drauf wieder ziehen lassen zu müssen.

Für die Story kann der finnische Komponist,  dessen  50. Todesjahr die Musikwelt 2007 begeht, nichts. Die Geschichte entstammt dem „Kanteletar“, einem Verwandten des ungleich bekannteren finnischen  Nationalepos „Kalevala“. Die in lyrischen Texten festgehaltenen  Mythen und Volkssagen Finnlands spielen in Sibelius´ Ouevre immer wieder eine zentrale Rolle. „Rakastava“, der Liebende, das Stück mit dem unser heutiges Konzert beginnt, ist eine dreisätzige Suite für Streichorchester und Pauken. Sibelius hatte das Stück mit 28 Jahren 1893 ursprünglich als Liederzyklus für Männerchor a capella komponiert. Der Universitätschor von Helsinki, dem das Werk zugedacht war, sah sich damals allerdings außer Stande, das Geschenk einzulösen, sprich: der Chor kam mit den teils extremen Tenorpassagen und den damals noch sehr ungewohnten Dissonanzen in der Harmonik von Rakastava einfach nicht zurecht. Die Sänger baten den Komponisten um Hilfestellung. Sibelius ließ sich nicht lang bitten, fügte unterstützende Streicherstimmen hinzu. Später richtete der Finne das Stück auch für gemischten Chor ein und schuf jene Instrumentalfassung, die wir nachher hören werden.

Die Suite kann ihre vokale Herkunft kaum verbergen, und sie will das wohl auch nicht. Wenn sie dran denken, achten sie später mal im dritten Satz auf das Wechselspiel zwischen Violine und Cello. Was die beiden Streichinstrumente machen, war ursprünglich das Gesangssolo einer Abschiedszene.

Dieser Liebende von Sibelius ist, so kommt es mir vor, nicht nur ziemlich schüchtern, sondern ein bisschen ein Pechvogel. Denn sein Liebesleben besteht überwiegend darin, auf die Geliebte zu warten, ihre Abwesenheit zu besingen, oder von ihrem Näherkommen über die Berge und durch die Täler der finnischen Landschaft zu träumen. Die Musik ist deshalb sehr melancholisch und zugleich sehr zärtlich, freilich nicht ohne Überraschungsmomente – und nicht ohne Doppeldeutigkeiten, die beim Thema Liebe ja nie und nimmer vermeidbar sind, und auch nicht vermieden werden sollen.

Rakastava gehört nicht zu den Sibelius-Hits im deutschen Konzertrepertoire. Das Werk wird, man muss es so sagen, sogar recht selten gespielt. Sibelius´ 3. Sinfonie war im Frühsommer 2005 in diesem Saal hier zu hören. Mit der sinfonischen Dichtung „Finlandia“ erfüllten Daniel Raiskin und die Rheinische Philharmonie im März 2006 die Rhein-Mosel-Halle mit großen Gefühlen: Leid der Unterdrückten, Dramatik des Befreiungskampfes, Pathos der Freiheit. „Rakastava“ indes wird m.W. heute in Koblenz erstmals aufgeführt.

Lassen sie mich noch einige Sätze zum dem 1865 in Hämeenlinna geborenen, 1957 in Järvenpää bei Helsinki gestorbenen Sibelius sagen – man kann schließlich das Konzert heute gewissermaßen als Prolog zum Siblius-Jahr 2007 verstehen. Die Versuchung war und ist groß, die Werke von Jean Sibelius als musikalischen Ausdruck der herb-schönen Landschaft seiner finnischen Heimat zu erklären und zu interpretieren. Weit, einsam, kahl, vernebelt, windumtost und fest im Griff endloser Winter, scheint das von Feen, Trollen und anderen mystischen Gestalten bewohnte Land die Musik dieses ersten großen Sinfonikers der Nordens maßgeblich inspiriert zu haben. Natürlich prägt die Lebensumgebung und deren Geschichte einen Komponisten. Doch darf man nicht vergessen, die musikalische Umgebung von Sibelius war vor allem die Musikwelt Europas. Was er – nicht nur beim Studium in Helsinki, Berlin und Wien - spielte, was er hörte, was er analysierte, dies Repertoire unterschied sich kaum von dem seiner Musikkollegen in Deutschland, Italien oder Frankreich.

Der Befund „typisch finnisch“ für seine Musik ist ein Irrtum. Er rührt daher, dass Sibelius der erste bekennende, nationalstolze Finne war, der den Klangschätzen Europas Musik von Rang beifügte. Der Charakter seiner Musik ist europäisch-spätromantisch, freilich mit einer Sibelius-eigenen Färbung. Dieser hängte man das Etikett „finnisch“ an, weil es andere nennenswerte Kunstmusik aus Finnland zuvor gar nicht gegeben hatte. „Typisch finnisch“ meint eigentlich „typisch Sibelius“. Das musikalische Genie dieses - im äußeren Erscheinen sehr bulligen - Mannes und seine Werke wurden von den Finnen als Symbole nationaler Identität und Stärke im Unabhängigkeitskampf gegen Schweden und Russland empfunden. Jean Sibelius war schon zu Lebzeiten ein finnischer Nationalheld. Er ist es geblieben, auch wenn seine Landsleute und die interessierte Musikwelt ebenfalls noch immer rätseln, warum der Mann die letzten drei Jahrzehnte seines 91 Jahre währenden Lebens sich radikal von der Welt zurückzog und kein einziges Werk mehr veröffentlichte.

Wird „Rakastava“ heute zum ersten Mal in Koblenz aufgeführt, so „Hidden-Lovesong“ von Marc-Anthony Turnage erstmals in Deutschland. Uns steht also eine echte Deutsche Erstaufführung bevor, auf die das Haus mit Recht stolz ist. „Hidden Lovesong“ ist   eine Arbeit, die das Staatsorchester Rheinische Philharmonie, das London Philharmonic Orchestra und das Risör Festival of Chamber Music gemeinsam bei Marc-Anthony Turnage in Auftrag gegeben hatten. Herr Turnage ist Jahrgang 1960, Brite und einer der wichtigsten Komponisten in der zeitgenössischen Musikkunst.   Ich habe Chef-Dirigent Daniel Raiskin gebeten, für einen Augenblick zu uns zu kommen, um ein bisschen zu erzählen über "Hidden Lovesong", über die Geheimnisse dieses verborgenen, heimlichen Liebesliedes.

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(Raiskin sprach dann einige Minuten über den monologischen Erzählgestus und die intensive Emotionalität des 12-minütigen Werkes. Er verwies auf das Gedicht "Lay your sleeping head, my love, human on my shoulder" von W.H. Audens, das Wiegenlied und Liebeslied gleichermaßen ist. Und Raiskin erzählte, dass Turnage "Hidden Lovesong" einst heimlich für seine damalige Freundin, heutige Ehefrau, komponiert hatte.)

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Herzlichen Dank Herr Raiskin. Und während Sie sich zurückziehen, um vor Konzertbeginn noch ein paar Augenblicke der sammlung zu nehmen, möchte ich noch nur ein paar kurze Bemerkungen über die beiden noch nicht angesprochenen Stücke des heutigen Konzerts machen.

Auf Rakastava folgen die „Nachtgebete“ des Komponisten Gija Kantscheli. Der 1935 geborene Georgier lebt und arbeitet derzeit in Antwerpen. Sein wohl bekanntestes Werk ist die Oper „Musik für die Lebenden“ aus dem Jahr 1984.  Die „Nachtgebete“ sind der abschließende Teil eines Werkzyklus mit dem Titel „Leben ohne Weihnacht“. Die erschreckende Vorstellung, die dieser Titel impliziert, gibt die Atmosphäre der Komposition vor: Eine tieftraurige Poesie, in der es auch um Liebe, aber in einem „sehr universellen Verständnis“ geht, wie Daniel Raiskin sich ausdrückte, als er mir vor einigen Monaten erstmals von diesem Werk erzählte.

Die Entscheidung, „Nachtgebete“ ins Programm aufzunehmen, fiel, als klar war, dass Martin Robertson die Saxophon-Partie in der deutschen Erstaufführung von Hidden Lovesong übernehmen würde. Denn hat man schon mal einen Solosaxophonisten von Weltrang im Haus, dann wäre es töricht, würde man kein weiteres Stück aufnehmen, das einen Spitzensaxophonisten benötigt.  Kantschelis „Nachtgebete“ sind für Sopransaxophon, kleine Streicherbesetzung und – Tonband gesetzt. Über die Musik selbst will ich vorweg gar nichts sagen, außer dieses: Lassen Sie sich erstens überraschen, und lassen sie sich zweitens darauf ein – dann könnte es sein, dass Ihnen in vielleicht etwas ungewohnter Form die ursprüngliche Besinnlichkeit des Advent einmal wiederbegegnet.

Auf „Nachtgebete“ folgt Hidden Lovesong, und beschlossen wird das Konzert mit einem weiteren Werk von Sibelius: Suite opus 46, „Pelleas und Melisande“. Handelt Rakastava von einer eher schüchternen Liebe, die, was ihre Handgreiflichkeiten angeht, lange nicht recht vom Fleck kommt, so geht es bei „Pelleas und Melisande“ um eine verbotene Liebe, aus der großes Unglück erwächst. Basiert Rakastava auf der textlichen Vorlage eines finnischen Sagenepos, so ist opus 46 die Vertonung einer Dramenvorlage des belgischen Symbolisten und Literaturnobelpreisträgers (1911) Maurice Maeterlinck. Das 1892 als Schauspiel verfasste Werk wurde mehrfach vertont, u.a. von Gabriel Fauré 1898 und von Claude Debussy 1902 als Opern, sowie von Arnold Schönberg 1903 als sinfonische Dichtung. Die Suite von Sibelius kam 1905 in Helsinki zur Uraufführung.

„Pelleas und Melisande“ ist, weil von so vielen Komponisten aufgegriffen, zwar ziemlich bekannt, im Opernrepertoire wurde das werk indes nie ein richtiger Renner. Dazu fehlt schon Maeterlincks Dichtung der rechte Spannungsbogen, sind die handlungstreibenden Gegensätze zu schwach ausgeprägt. Das Drama „verschwebt, verdämmert“ formulierte ein Kritiker im frühen 20. Jahrhundert einmal. Daher mag kommen, dass auch die „Pelleas- und-Melisande-Musik von Sibelius nicht als handlungsdramatisches Ganzes konzipiert ist. Stattdessen erleben wir neun weitgehend eigenständige Teile, die ähnlich wie Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“ Atmosphären-Momente, Stimmungsgemälde aneinander reihen.

Natürlich ist es dennoch zum Verständnis von Sibelius Musik nützlich, wenn man die Story von Pelleas und Melisande kennt. Die erzähle ich jetzt aber nicht, die können Sie in der Pause im wie immer sehr informativen Programmheft meiner Kollegin nachlesen.

Mit einem Liebesgedicht von Rilke habe ich begonnen mit einem Liebesgedicht von Bertolt Brecht möchte ich schließen:

"Erinnering an Marie A." …………………

Nun also viel Freude bei einem Konzert, das für die meisten im Saal manch neues Hörerlebnis und manch neue Erfahrung bereithält – in Sachen Liebe. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.     

Andreas Pecht
 
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