Thema Wissenschaft / Bildung
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2006-11-03:
Raffiniertes, wundersames Gehirn

Eine philosophische Tagung an der Uni Koblenz  lässt sich auf die Herausforderungen der Neurobiologie ein
 
ape. Koblenz. Das Gehirn - ein wahrhaft wunderbares Organ, das in den letzten Jahren verstärkt im Fokus der naturwissenschaftlichen Forschung steht,  deren Ergebnisse wiederum von den Geisteswissenschaften mal begierig aufgegriffen, mal misstrauisch beäugt werden. Auch Philosophen verwenden ihr Hirnschmalz  auf die Frage, was wir mit dem Gehirn anfangen können - oder eben auch umgekehrt . Sind frei in unserem Denken und unseren Entscheidungen? Oder gaukelt und das Gehirn solche Freiheit nur vor?

Jüngst lud das Seminar Philosophie der Universität Koblenz zu einer wissenschaftlichen Tagung. Die Referenten sind hochkarätig, vorneweg Oswald Schwemmer, der an der Humboldt Universität Berlin lehrt und ein Star in der Philosophie-Szene ist. „Aspekte einer Philosophie der modernen Kultur“: Das Tagungsthema klingt für den Außenstehenden verdächtig nach Elfenbeinturm. Klingt aber nur so. Denn hat man erst die Frucht der gelehrten Gedanken aus der oft zähen Schale professoraler Sprache  herausgeschält, wird erkennbar: Diese Tagung ist ein interessanter Teil des großen gesellschaftlichen Diskurses über die Bedeutung der Erkenntnisse moderner Hirnforschung für Leben und  Selbstverständnis des Menschen.

Vergangene Woche geißelte „FAZ“-Herausgeber Frank Schirrmacher bei einem Vortrag in einer Koblenzer Buchhandlung als fatale Irrlehre, was über Generationen als unumstößlich galt - dass das menschliche Hirn im 20. Lebensjahr fertig ausgebildet sei und danach bald beginne, sukzessive abzusterben. Die Neurobiologie hat dagegen für das Gehirn Flexibilität, Lernfähigkeit und das Vermögen zur Selbsterneuerung bis ins hohe Lebensalter nachgewiesen. Schirrmacher stufte dieses Faktum zu Recht als grundlegend für die Zukunftspotenziale einer alternden Gesellschaft ein. Beinahe zeitgleich strömten in Mainz Musiklehrer zu einem Symposium unter dem Titel „Musik mit Köpfchen“ zusammen. Gegenstand der Tagung: Praktische Anwendungen neurobiologischer Forschungsergebnisse auf den Musikunterricht.

„Der Kampf um die Freiheit. Eine neurobiologische Herausforderung und eine philosophische Antwort“, der so betitelte Abendvortrag Schwemmers bei besagter Philosophentagung an der Uni Koblenz schlägt inhaltlich die Brücke zu einem denkwürdigen Ereignis aus dem Februar 2005. Damals waren der  Hirnforscher Wolf Singer und der Philosoph Rüdiger Safranski im überfüllten Frankfurter Schauspielhaus zum öffentlichen Disput angetreten. Der Natur- und der Geisteswissenschaftler sollten/wollten streiten über die Frage „Sind wir Herr oder Sklave unserer Sinne, Gedanken, Entscheidungen?", also "Leben wir oder werden wir gelebt?".  Ein uralter Stoff. Aber dank der Fortschritte der Neurobiologie ist er nicht nur erfrischt in die akademische Welt zurückgekehrt, sondern marschierte gleich durch auf die Seiten der Feuilletons und Illustrierten, ja selbst in die Gefilde des Boulevards.

Die große Diskurs-Lage ist, wie man sieht,  etwas unübersichtlich geworden. Wir begreifen inzwischen das Gehirn als Wunderwerk unzähliger neuronaler Prozesse, die sich, ausgelöst und angespornt von äußeren wie inneren Reizungen, selbsttätig zu einem selbständigen Funktionsnetz organisieren. Vorstellbar als gewaltige Maschinerie, die sich während ihrer gesamten Existenz ständig entsprechend neuer Herausforderungen umbaut, erweitert, optimiert.

Für den Alltag ergeben sich daraus durchaus befreiende Einsichten: Etwa, dass  Lernen auch im hohen Alter Sinn macht, oder dass stures Wiederholungspauken über Stunden für die Katz ist. Im Grundsätzlichen allerdings lauert, folgt man den Hirnforschern, die Fratze der Unfreiheit. So komplex, flexibel, raffiniert sei das Gehirn, dass es uns Willens- und Entscheidungsfreiheit vorgaukle, in Wahrheit aber mit uns mache, was es wolle. Will sagen: Individuelle Freiheit ist eine Illusion, der Mensch Sklave des autonomen neuronalen Netzwerks.

Anders als der 2005 in Frankfurt etwas zaghafte Safranski, führte Oswald Schwemmer dazu in Koblenz jetzt geharnischte Gegenrede. Allerdings bestreitet er gar nicht, dass das Gehirn eine auf Basis diverser Einflüsse sich selbst organisierende Maschinerie ist und viele unserer Entscheidungen aus allen möglichen unbewussten Einflüssen heraus fallen. Während Singer darin gerade den Beweis für die Abwesenheit von Freiheit sieht, insistiert Schwemmer auf ein anderes Freiheitsverständnis: „Zu Erfahrungen fähig zu sein und aus Erfahrungen zu lernen und dann, wenn uns die Erfahrungen nicht weiter helfen, kreative Erwägungen anzustellen.“ Beides zusammen, Erfahrungen und Kreativität bilden im Laufe eines menschlichen Lebens persönliche Haltungen heraus, auf deren Grundlage sich das Individuum in bestimmten Situationen tendenziell so oder so verhält. Solche Haltungen mögen biologisch die Form neuronaler Verschaltungen haben, tatsächlich sind sie ein historisch und kulturell gewachsenes Potenzial.

Danach gibt es „freie“ Entscheidungen im luftleeren Raum so wenig wie vom Himmel fallende Gedanken. Was es gibt, sind aus dem bisherigen Leben hervorgegangene „Bereitschaftslagen“, aus denen heraus Entscheidungen getroffen werden. Für Singer wären das determinierte, also unfreie Reaktionen. Für Schwemmer sind wir, in Henri Bergsons Worten,  „frei, wenn unsere Handlungen aus unserer ganzen Persönlichkeit hervorgehen“.  Bloß interessante, aber weltferne Philosophiererei? Mitnichten, wie andere Vorträge der Philosophen-Tagung im Hinblick auf Wahrnehmung und Bildung des Menschen verdeutlichen. Keine Freiheit ohne Haltung, ohne  Charakter und Persönlichkeit. Keine zivilisierte Haltung und entwickelte Persönlichkeit ohne Bildung und ohne reflektierende Teilhabe an der „kulturellen Evolution“. Wird da Freiheit nicht ganz schön anstrengend, quasi ein Prozess lebenslangen Strebens? So ist es.
Andreas Pecht

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 2005-02-15:
Singer und Safranski im Frankfurter Disput


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