Thema Gesellschaft / Zeitgeist
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2006-06-26:
Stadionstimmung dank
Großleinwänden

Erst Beamer-Technik macht WM als kollektives Erlebnis möglich
 
ape. Stadionatmosphäre in Biergärten, auf Straßen und Plätzen, an Flussufern und Stränden, in Diskos und Konzerthallen. So viel kollektives Fußball-Erleben wie 2006 hat es zuvor in der Geschichte der Weltmeisterschaften nie gegeben. Woher kommt´s? Nach Ansicht des Autors von der Großbildtechnik, die im Verbund mit dem Bedürfnis nach Gemeinschaft eine neue Form von Freizeitkultur möglich macht.
 
Später einmal werden Soziologen und andere Wissenschaftler feststellen: Mit der Fußball-WM 2006 hat eine neue Form  öffentlichen Lebens ihren Durchbruch auf breiter Front erfahren. So eine Weltmeisterschaft wie die jetzige war noch nie – was allenfalls in zweiter Linie mit dem reichlich besungenen neuen, lockeren, normalen Patriotismus der Deutschen zu tun hat. Im fußballhistorischen Rückblick wird ein ganz anderes, keineswegs bloß auf Deutschland begrenztes Phänomen wesentlich interessanter: Das Fernsehen verlässt die heimischen vier Wände und macht sich auf zur Eroberung des öffentlichen Raumes. Seine wichtigsten Waffen dabei: Beamer-Technik und Großbildleinwand.

Das Phänomen ist allgemein. Großbildleinwände locken nicht nur in den Großstädten Hunderttausende auf speziell eingerichtete Fan-Meilen oder Fan-Plätze. Die TV-Bilder aus Berlin, München oder anderen Metropolen dokumentieren Stadionstimmung außerhalb der Stadien. In Frankfurt versammeln sich Massen an den Main-Ufern vor auf dem Fluss schwimmenden Projektionsflächen. Die Verkehrssprache dort ist zumeist Englisch, denn die Teilnehmer an diesen partymäßigen Fußballübertragungen stammen aus aller Herren Länder.

Stadionstimmung auch in den kleineren Städten: Mainz hat sein zentrales Areal, in Koblenz strömen am Deutschen Eck jeweils Tausende zur Fernsehübertragung zusammen.
Neben diesen Zentren existiert für die WM-Zeit ein schier flächenendeckendes Netzwerk von Leinwänden und  Großbildschirmen, mit dem Gemeinden, Gastronomen, Geschäftsleute, Vereine Städte und Land überzogen haben. Andernach oder Montabaur, Bad Ems oder Bad Kreuznach – überall können Fußballspiele in großer öffentlicher Runde vor übergroßen Mattscheiben erlebt werden. Selbst draußen auf den Dörfern der Eifel oder des Westerwaldes werden Gasthöfe, Marktplätze und sogar Waldhütten dank Großbildtechnik zum Ersatz-Stadion. Die Fußball -WM wird zum Dorffest.

Eine vage Kindheitserinnerung des Autors reicht bis zur  Hau-Drauf-WM 1962 in Chile zurück, deren rabiate Spiele im noch farblosen Fernsehen nur als Konserve zu sehen waren. Wer in Echtzeit dabei sein wollte, war auf den Rundfunk verwiesen. Die folgende WM in Großbritannien konnten wir dann schon am Bildschirm direkt verfolgen. 30. Juli 1966, Endspiel Deutschland-England: Die Straßen leer gefegt, Städte und Dörfer wie ausgestorben, nur aus den Fenstern der Häuser dringt bald Jubelgeschrei, bald  Enttäuschungstöhnen, bald Protestgezeter. Alle erleben das Gleiche, aber jeder erlebt es für sich. In manchen Wirtshäusern drängen sich ein paar Dutzend Menschen vor dem Apparat, ansonsten sitzt man in den Wohnzimmern einzeln oder in Minigrüppchen vor dem Fernseher.

Es ist ein Kreuz mit der Fernsehkultur. Sie bringt einem immer farbiger, immer aktueller, immer vielfältiger (auch immer einfältiger) das Weltgeschehen ins Haus, vergrößert aber zugleich stetig die Distanz zum Nachbarn, zum Mitmenschen, auch zum Fußballfreund. 1970, 74, 78, 82, 86 … ein bis zweieinhalb Millionen Besucher schaffen es jeweils zum authentischen Erlebnis in die WM-Stadien, viele hundert Millionen indes mussten buchstäblich in die Röhre gucken. Selbst wenn sie die TV-Kisten auf die Veranda stellten, ein paar Freunde einluden, kleine WM-Partys veranstalteten: Es blieb eine Aufregung auf Distanz und ein weitgehend isoliertes Privaterlebnis.

Nach dem Spiel, zumal nach einem gewonnenen, hinaus auf die Straße, mit Tausenden zusammen Dampf ablassen und der Freude freien Lauf: Das hat bei unseren südländischen Nachbarn lange Tradition. Fahnenschwenkender Spontanumzug; lautstarker, die Straßenverkehrsordnung außer Kraft setzender Autokorso, ausgelassenes Feiern zu nachtschlafener Zeit, demonstratives Fan-Bekenntnis auf Haut, Klamotten, Auto … So ist´s Stil in vielen Sonnenländern seit jeher. In den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten wurde es zusehends allgemeiner Stil.

Dieser Stil ist ein Spiel. Ein Spiel, das dem Leben auf lockere und zugleich enthusiastische Art schöne Seiten abgewinnt. Und dieses Spiel hat mit der Verbreitung der Großleinwände eine entscheidende qualitative Weiterung erfahren: Man nimmt jetzt auch außerhalb der Stadien gemeinschaftlich am Ereignis selbst teil, und kommt nicht erst nachträglich zur Feier desselben zusammen. Von nun an gehört  das ernsthaft oder auch nur augenzwinkernd vollzogene kollektive Ritual des Anfeuerns, des Mitgehens, des Mitsingens, des Mitleidens auch fürs Fernsehpublikum zum Fußball. Wobei es dem Spaß offenbar keinen Abbruch tut, wenn davon bei den Fußballern nichts ankommt, weil die Schlachtgesänge  bloß einer schnöden Leinwand entgegen geschmettert werden.

Zum Spiel gehört auch das Kostüm in Vereinsfarben: So viel Schwarz-Rot-Gold sah man in Deutschland lange nicht, so verspielt eingesetzt wie jetzt auch nicht.     Nationalfarben auf Irokesenschnitt und Glatze, auf Narrenkappe und Clownszylinder, auf Getränkebecher, Taschentuch und Slip. Schwarz-rot-gold um nackte Busen und bloße Bauchnabel, die Fahne ergänzt um allerlei Sprüche und Zeichen ... Manches heute ins Stadion oder vor die Großleinwand ausgeführte Nationalfarben-Accessoire wäre vor 30 Jahren noch als Verunglimpfung hoheitlicher Symbole verfolgt worden.

Zeiten ändern sich, und nicht alles wird schlechter. Unerfreulich wäre allerdings, würde sich die derzeitige Allgegenwart des Fernsehens im öffentlichen Raum nach der  Weltmeisterschaft als mediale Normalität  einnisten.
 
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