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2006-02-13 Ballett:
Walzerseligkeit in Unterwäsche
Programm XX beim ballettmainz:  Neue Choreografien von Martin Schläpfer und Nils Christe - Geteilte Meinung über Vertanzung von Beethovens 7. Sinfonie
 
ape. Mainz. Kleines Jubiläum in angemessenem Rahmen beim ballettmainz: Die 20. Premiere seit Übernahme der Tanzsparte 1999 durch Martin Schläpfer geht im Großen Haus des Staatstheaters live begleitet vom Philharmonischen Staatsorchester Mainz über die Bühne. Auch der jüngste Abend bestätigt mit seinen drei Uraufführungen - zwei vom Ballettchef, eine von Gastchoreograf Nils Christe - das internationale Niveau der Kompagnie.
 
Thema des Programms XX, das vom ballettmainz am Wochenende heraus gebracht wurde, ist der Tanz selbst. Unter dem Titel "Marsch, Walzer, Polka" choreografierte Martin Schläpfer vier populäre Musiken der Wiener Strauß-Familie. Damit beginnt der Abend. Beendet wird er mit "Gota de Luz", einer von großen Erwartungen begleiteten Vertanzung der siebten Sinfonie Ludwig van Beethovens. Beide Arbeiten weisen satirische Färbungen auf. Vor allem die Strauß-Adaptionen provozieren mit frechem Schmäh auf Wiener Walzerseligkeit Schmunzeln.

Gast Nils Christe setzt mit "Kleines Requiem für eine Polka" nach dem gleichnamigen Opus 66 von Henryk M. Górecki einen starken Kontrast dazwischen. Drei Männer und vier Frauen in Schwarz tanzen darin Leidensmomente einer Art Trauergesellschaft. Einsam sitzt Kirsty Ross auf einer siebenfüßigen weißen Bank vor blauem Horizont. Glockenschläge wabern durch die minimalistische Trauermusik, zu der die Bank sich dreht wie ein Uhrzeiger.

Schmerz wird verschieden empfunden und ausgedrückt. Ross tanzt die leise nach innen gekehrte Form, die in anrührender Zuwendung durch Nick Hobbs Trost findet. Yuko Kato kehrt ringend, sich am Boden wälzend den Schmerz nach außen. Andere finden andere Wege - alle zusammen stürzen bei einer makaberen Zwischenpolka in erzwungene Munterkeit. Hernach tickt die Zeit des Verlustes unaufhaltsam weiter.

In seinem Schmerzengestus ist das "Kleine Requiem" so großartig wie "Marsch, Walzer, Polka" es zuvor in seinem Schalk war. Von Thomas Dorsch vielleicht etwas zu manierlich dirigiert, wellt ¾-trunken die "schöne blaue Donau" aus dem Orchestergraben. Dazu sollten munter sich die Paare drehen. Tun sie aber nicht. Stattdessen schaut Schläpfer unter die Ballkleider und findet dort Lockung, Verführung, Forderung, Hingabe - Libido eben. Camille Andriot eröffnet den seltsamen Ball als quasi erwartungsfrohe Maid vorm ersten Mal. Sie trägt Unterwäsche. Thomas Ziegler hat für alle nur weiß bis pastellblaue Unterwäsche zugelassen.

Schläpfer hat aus dem Tanz das Wiener Parketttempo raus genommen. Statt schwitziger Drehwürmerei bestimmen witzige Steh- und Hebefiguren von erotisierender Herkunft oder Absicht die Szene. Man reibt die Leiber, wippt im Spagat, turtelt, guckt, tastet, umgarnt; dabei einen unglaublichen Erfindergeist für frappierende Tanzfiguren beweisend. Zu "Annen-Polka" und "Sphärenklängen Walzer" zieht die Kompagnie Trümpfe im Spiel "kunstvoll unter der Tracht Temperatur messen". Jörg Weinöhl fällt die Aufgabe zu, mit einer süffigen Pantomime zum Radetzky-Marsch aus Bücklingen, Marschtritten, Schlotterknien und Schnabuliertiraden die k.u.k-Gesellschaft wie weiland der brave Schwejk abzuwatschen.

Wunderbar die beiden ersten Teile des Abends. Wunderbar auch der erste Moment des dritten Teiles: Begegnung mit dem Bühnenbild der Künstlerin rosalie zu "Gota de Luz". Strahlend weiß umhüllt und ausgeleuchtet der Bühnenraum, in dem riesengroß, aber federleicht weiße "Tropfen des Lichts" schweben. Hinten ragt ein Sprungturm in dieses "Schwimmbecken", das von Tänzern mit hautfarbenen Badekappen und Wickel-Shorts bevölkert wird. Diese Schürze wechseln im Verlauf von Beethovens Sinfonie die Farbe von schwarz nach blau nach gelb.

Was hier tänzerisch vor sich geht, dazu findet der Autor - anders als offenbar viele heftig applaudierende Zuseher - keinen Zugang. Ihm kommt es vor, als habe Schläpfer Beethovens Musik und Rosalies Raumkunst nicht stören wollen. Vorsichtig, beinahe bedächtig gehen Solisten, Paare, Gruppen wieder und wieder das Areal ab. Höhepunkte sind selten, eine von Ana Méndez Lago mit neckischem Hüftswing angeführte Prozession der Badeflaneure ist so einer.

Zuhauf ziehen pathetische Posen vorüber, entliehen dem antiken Körperkult, dem russischen und romantischen Ballett, der Pekingoper. Manierismus allüberall - dekonstruiert immerhin, denn Pekingoper im Schwimmbad, das schafft Lachen machende Befremdlichkeit. War das gemeint? Für die Tiefe und für die Dauer von Beethovens Sinfonie reicht das nicht. Weshalb es den "Tropfen des Lichts" leider etwas an der sonst von Martin Schläpfer gewohnten Belebungswirkung mangelt.   
 
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