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2005-02-20: Vortrag
Konzerteinführung Albinez, Gerhard, Respighi, Gionastera
 
Sehr geehrte Damen und Herrn, liebe Musikfreunde

Wer von Ihnen schon  das letzte Mal dabei war, am 23. Januar beim ersten Görreshaus-Konzert der Saison 2005, wird sich erinnern, dass wir mit Zoltan Kodaly einen Komponisten kennenlernen durften, für den die Erforschung der Volksmusik seiner ungarischen Heimat eine wahre Herzensangelegenheit war. Die musikwissenschaftlichen wie auch die kompositorischen Anstrengungen des 1882 geborenen Kodaly galten der Entwicklung einer authentischen ungarischen Nationalmusik. Wie der Ungar, so sind drei der vier beim heutigen Konzert vertretenen Komponisten ebenfalls in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geboren: der Spanier Isaac Albinéz 1860,  sein Landsmann Roberto Gerhard 1896 und der Italiener Ottorino Respighi 1879. Der Vierte im Bunde, Alberto Ginastera, fällt etwas aus der Reihe: Er kam 1916 im argentinischen Buenos Aires zur Welt. Und wie bei Kodaly, so finden wir auch bei seinen südländischen Kollegen ein ausgeprägtes Interesse an den folkloristischen Elementen, den nationalen Eigenarten der Volksmusiken ihrer jeweiligen Länder.

 Natürlich gab es quer durch die Musikgeschichte unzählige Komponisten, die hie und da oder immer wieder dem Volk sozusagen aufs Maul geschaut haben. Man ließ sich von Tänzen und Gesängen auf Dorffesten oder in Cafehäusern inspirieren, und klaute auch schon mal das eine oder andere Motiv. Bach machte das, Händel auch, Mozart und Beethoven sowieso.  Doch nie zuvor war das systematische Interesse an spezifisch regionaler Musikfolklore bei einer ganzen Musikergeneration so sehr verbreitet wie im mittleren und späten 19. Jahrhundert.  Ein Trend, eine Mode, bisweilen geradezu eine Manie, die sich über ganz Europa erstreckte, von der der Tscheche Antonin Dvorak ebenso befallen war wie der Böhme Gustav Mahler, der Ungar Bela Bartok oder der Finne Jean Sibelius.

Um diesen folkloristisch-nationalen Musiktrend besser begreifen zu können, lassen sie uns einen kleinen Ausflug in die Geschichtsbücher machen.  „Das Zeitalter des Nationalismus“ - so war ein Hauptkapitel jenes Lehrwerkes überschrieben, mit dem ich mich in der 8. oder 9. Klasse des Gymnasium vor vielen Jahren herumschlagen musste. Das Kapitel handelte von der Bildung erstmals national begründeter Staaten aus unzähligen Minikönigreichen, Fürstentümern, Grafschaften, selbständigen Städten. So beispielsweise in deutschen Landen. Es schilderte zugleich auch eine umgekehrte Entwicklung: Plötzlich kochte Nationalbewusstsein in kleineren Ländern hoch, die bislang Bestandteil russischer, österreichischer, schwedischer, französischer oder türkischer Großreiche waren. Polen, Italiener, Ungarn, Tschechen, Böhmen, Finnen, Balten, Schotten, Iren, Araber und viele ethnische Landsmannschaften mehr gerieten auf der Suche nach eigener Identität nicht selten in blutige Konflikte mit ihren bisherigen Herrschaften.

Was das mit Musik zu tun hat, mögen sie fragen. Ganz einfach:  Rassische Faktoren, also die berühmt-berüchtigten ewigen Blutbande taugen zur Stiftung nationaler Gemeinschaft nicht, weil sie im großen Völkerwanderzirkus Europas längst nur noch ein ideologisches Hirngespinst sind.  Es auch im 19. Jahrhundert schon waren. Die Nationalsozialisten versuchten trotzdem ihrem Rassismus wissenschaftlichen Anstrich zu verleihen: Ihre obskure Suche nach objektiven Eigenschaften der arischen Herrenrasse, sozusagen nach der Biologie des Deutschtums ging als perfider Mummenschanz in die Wissenschaftsgeschichte ein.

Tatsächlich nämlich führt jede halbwegs ernsthafte Suche nach nationaler oder regionaler Identität nicht zur Biologie, sondern  immer zwangsweise zur Suche nach der eigenen Kultur. Die aber muss oft mühselig freigelegt werden unter der dicken Kruste einer manchmal  Jahrhunderte währenden Prägung durch eine auswärtige Leitkultur. Von zentraler Bedeutung ist dabei der  Rückgriff auf überkommene volkstümliche Erzählungen, Lieder, Tänze, in denen sich noch am ehesten Überreste originaler Regionalkultur erhalten. Solche Rückgriffe sind im 19. Jahrhundert nicht nur für die Musik typisch, wir finden sie auch in der Malerei,  vor allem aber in der Literatur. Plötzlich beginnen polnische Schriftsteller und Wissenschaftler polnisch zu schreiben, nachdem über Jahrhunderte wechselweise Latein, Russisch, Deutsch oder Französisch  angemessene Umgangs- und/oder Schriftsprache der gehobenen Stände und Gelehrten in Polen waren. Womit einmal mehr bewiesen wäre, dass auch die Kunst nicht frei in irgendwelchen höheren Sphären schwebt, sondern ein Kind des Weltgeschehens ist, abhängig vom Wandel der Zeiten, auch ästhetisch beeinflusst durch sich verändernde Umfeldbedingungen.  

 Es wäre nun allerdings ein Trugschluss, anzunehmen, der Rückgriff der Komponisten des 19. jahrhunderts auf folkloristische Elemente hätte nun auf breiter Front die Kunstmusik oder E-Musik, wie wir sie heute nennen,  folklorisiert oder gar populistisch banalisiert. Nein, die Philharmonischen Orchester spielten jetzt nicht plötzlich zur Kirmes auf, und die Konzertsäle wurden auch keine Vergnügungspaläste, in denen Tango, Malambo, Fandango oder Flamenco getanzt wurden – um bei Beispielen aus dem südländischen Umfeld der im heutigen Konzert  vertretenen Werke zu bleiben. Eher war das Gegenteil der Fall, denn die Herren Komponisten legten es gerade an der Wende zum 20. Jahrhundert zumeist darauf an, das im Volke vorgefundene Material in Kunst zu verwandeln, es zu verfremden, weiter zu entwickeln. Sie werden davon heute eine Reihe von Kostproben zu hören bekommen – und das eine Mal folkloristische Färbungen umstandslos erkennen, das andere Mal wohl vergeblich mit den Ohren danach suchen. 

Isaac Albinez, mit dessen „espanja Suite“ das heutige Konzert beginnt, durchlief eine typische Wunderkind-Karriere,  freilich begleitet von einigen überaus abenteuerlichen Aspekten.  Im Alter von 4 Jahren gab er in Barcelona sein erstes Klavierkonzert. Mit neun Jahren wurde er am Konservatorium von Madrid aufgenommen. Dort hielt es den ungestümen Knaben allerdings nur ein Jahr: Klein-Isaac nahm Reißaus und begab sich sozusagen auf die Waltz:  der Knabe zog Klavierkonzerte gebend durch Kastilien. Zwei Jahre später überquerte er als blinder Passagier den großen Teich,  gelangte über Südamerika in die USA. Seinen Lebensunterhalt verdiente er unterwegs als vagabundierender Konzertpianist. Fragen Sie mich bitte nicht, wie ein Kind, dann ein Halbwüchsiger so etwas bewerkstelligen konnte. Das wäre eine ganz andere Geschichte.

Wichtig auch für das kompositiorische Schaffen von Albinez ist eine Begegnung zehn Jahre später. Er war nach Barcelona zurückgekehrt und hatte geheiratet – womit das freie Vagabundenleben natürlich der Vergangneheit angehörte. Albinez traf auf Felipe Pedrell, der für Spanien so etwas war wie Zoltan Kodaly für Ungarn: Mentor einer spezifisch nationalen Musikentwicklung. Pedrell wetterte gegen die damals in Spanien so populäre italienische Musik und rührte die Trommel für eine Rückbesinnung auf die spanische Folklore. Sie werden nachher in Albinez´ „Espanja-Suite“ hie und da bemerken können, dass das mit der Rückbesinnung auf die Nationalfolklore allerdings nicht so ganz einfach ist. Denn auch das Königreich Spanien war genau genommen ein Vielvölkerstaat, obendrein einer, in dem sehr lange zwei Leitkulturen gleichzeitig wirkten: die iberisch-europäische und die maurisch-afrikanische. Wir vergessen das manchmal, aber große Teile Spaniens waren über rund 800 Jahre muslimisch. Und so sehr die Espanja-Suite uns gleich auch spanisch vorkommen mag, so ist sie doch unverkennbar ein multikulturelles Stück: ein bisschen katalanisch, ein bisschen andalusisch, ganz am Ende baskisch und unter der Oberfläche immer wieder auch maurisch angehaucht.

Dass der nächste Komponist unseres Programms ein Landsmann von Albinez sein soll, mag man nicht glauben, wenn man seinen Geburtsnamen hört: Roberto Gerhard hieß ursprünglich Robert Gerhard Ottenwaelder. Der Herr Ottenwaelder entstammt einer nach Spanien übersiedelten Familie elsässischen und deutsch-schweizerischen Ursprungs. Europäische Familienlinien sind schon eine sehr spezielle Angelegenheit – und sollten Sie jemals intensiv Ahnenforschung betreiben, so wundern sie sich nicht, wenn ihr Stammbaum plötzlich allerlei welsches Volk, ja selbst Verwandtschaft aus Erbfeindlanden oder irgendeinem Balkanesenreich aufweist. Europa war immer so.

Der 1970 gestorbene Roberto Gerhard war der letzte Schüler jenes Felipe Pedrell, der schon Albinez auf die Fährte der spanischen Folklore gesetzt hatte. Nur dass Gerhard zugleich auch ein Freund von Arnold Schönberg und dessen Zwölftontechnik war, die durch ihn erstmals nach Spanien kam. Gerhards Schaffen verschmilzt Elemente spanischer Musik mit der Zwölftönerei, wobei die Hispano-Teile vor allem im Spätwerk dann bisweilen verloren gehen – und unsereinem bleibt dann nur die immer wieder spannende Herausforderung, den ästhetischen Rätseln der Zwölftonmusik nachzuforschen. Sie werden es gleich erleben.

Von Spanien nach Italien, zu Ottorino Respighi, von dem wir heute ein 1927 entstandenes dreiteiliges Werk über drei Gemäldemotive des Renaissance-Malers Sandro Botticelli hören werden.  Trittico Botticelliano heißt die Komposition. Dieses wohl eingängigste Werk des heutigen Konzerts finde ich deshalb so interessant, weil darin ein Musiker im frühen 20. Jahrhunderts einerseits ein fast schwärmerisches Rückwärtssehnen nach der italienischen Renaissance verrät. Andererseits aber kann er von den künstlerischen Lockungen seiner Gegenwart die Finger nicht lassen kann, von Impressionismus und Expressionismus nämlich. Leider haben wir Botticellis Gemälde nicht zur Hand. Trotzdem meine Aufforderung an sie: Wenn die Philharmoniker das dreiteilige Werk nachher spielen, versuchen sie  einmal sich bildhaft der Titel der Gemälde zu erinnern: Das erste Gemälde heißt „Frühling“, und wer je Antonio Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ gehört hat – und wer hat das nicht – wird auch bei Respighi die zurzeit von uns so sehnsüchtig erwartete Primavera sofort erkennen. Das zweite Gemälde nennt sich „Anbetung der Könige“ und zeigt unter anderen den Maler sowie seinen adligen Auftraggeber aus der Medici-Familie als Besucher des Stalls zu Bethlehem. Das dritte Motiv schließlich, „Die Geburt der Venus“, stellt angeblich die Geliebte des Medici-Herzogs dar. Die ziemlich nackte Schönheit wird als Göttin der Liebe, des Frühlings und der lieblichen Natur im Muschelboot übers Meer getrieben.

Mit dem erst 1983 verstorbenen Argentinier Alberto Ginastera sind wir dann entgültig in der musikalischen Moderne angekommen. Und da bei den meisten von uns die emotionale Genussfähigkeit  in Sachen E-Musik auch im Jahr 2005 noch immer an den Geschmacksprägungen durch das 18. und 19. Jahrhundert hängt, hier meinerseits die kleine Vorwarnung: Wir werden uns ein bisschen anstrengen müssen, um Ginasteras Opus 23 jene Aufmerksamkeit zu schenken, die ihm gebürt. Und ich kann Ihnen verspreche, die Aufmerksamkeit sie lohnt sich auch - vielleicht nicht im Sinne eines kulinarischen oder erbaulichen Genusses, dafür aber im Sinne geistiger Entdeckerfreuden.

Was Zoltan Kodaly für Ungarn war und Felipe Petrell für Spanien, war Astor Piazolla für Argentinien: Mentor, Treibsatz einer national gefärbten, in Südamerika durchaus auch antikolonial motivierten Musikentwicklung. Piazolla, der Komponist und wohl großartigste Bandoneonspieler, den die Welt je sah, war der wichtigste Lehrer unseres Alberto Ginastera. Er weckte in seinem Schüler das Interesse, die Möglichkeiten von Verschmelzungen europäischer Musiktradition mit lateinamerikanischer Musik auszuloten.  Das 1953 entstandene Opus 23 für Kammerorchester besteht aus einem Thema und elf Variationen davon. Vielleicht gelingt es Ihnen, in diesem überwiegend doch eher nach weltläufiger Moderne klingenden Werk harmonische, rhythmische, thematische Verbindungen zur ebenso heißblütigen wie schwermütigen Folklore Südamerikas zu entdecken.

So wünsche ich uns heute nicht viel Spaß, sondern interessantes Erleben bei einem Konzertprogramm, wie es nicht alle Tage zu hören ist. Wodurch sich denn auch die Anwesenheit des Südwestrundfunks erklärt. Die Kollegen vom Sender SWR2 schneiden das Konzert mit – deshalb meine Bitte: Nicht herumzappeln, nicht schnäuzen, möglichst wenig husten und die Lutschbonbons jetzt schon aus der Handtasche holen.

Und wie schon beim letzten Mal die Bitte: Sollte Ihnen meine kleine Einführung gefallen haben, sagen Sie´s weiter, auf dass der Saal das nächste Mal noch ein bisschen voller werde – um 15.15 Uhr.

Danke
 
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