Kritiken Theater
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2004-11-19 Ballettkritik:
Nach dem Giganten das Furioso

Zwei Uraufführungen beim ballettmainz - Artifizielles von Schläpfer über Beethoven, von Nils Christe eine Starkstrom-Werk
 
ape. Mainz. Das ballettmainz stellte mit seinem "Programm XVI" jetzt einen trotz seiner Kleinteiligkeit großen Abend vor. Zwei Uraufführungen erlebte das Kleine Haus des Staatstheaters: Compagnie-Chef Martin Schläpfer hat in artifizieller Art Beethovens Diabelli-Variationen choreografiert, Gast Nils Christe den Mainzer Tänzern treibende Gegenwartsmusik von John Adams als umwerfendes Balletto furioso auf den Leib geschrieben.

Das Programmheft von schwitzigen Händen verwüstet, hält es einen kaum mehr im drögen Theatersessel. Schreien möchte man, die im Leib tobende energetische Aufladung lauthals ableiten. Zwar endet "Fearful Symmetries" - das von Nils Christe zur gleichnamigen Musik des US-Komponisten John Adams choreografierte Ballett - in verklingender Zeitlupe. Doch wie könnte eine so kleine Sequenz Sinne beruhigen, die zuvor 40 Minuten lang unter Dauerbombardement lagen; die mit Tempoformationen und -soli zur dramatisierten Dynamik moderner Minimalmusik systematisch unter Starkstrom gesetzt wurden. Der niederländische Choreograf (55), einer der bedeutendsten weltweit, hat mit dieser Arbeit eigens für die Mainzer Truppe ein unglaubliches Furioso geschaffen.

Bunte Hocker geometrischer Einheitsform dienen der Compagnie als Ordnungshilfe. Gestellt zu nach vorne oder hinten offenen Quadraten, zu dieser oder jener Diagonalen, zu Längs- oder Querfronten, zu mittigen Blöcken  ..., gliedern sie die Bühne in symmetrische Tanzräume. Hocker sind von Hause Sitzmöbel, also sitzen die Tänzer (auch). Aber was heißt hier sitzen: Sie "rennen", paddeln, schweben, wedeln und gestikulieren; miteinander, nebeneinander, gegeneinander; tutti oder gruppenweise versetzt; alle gegen einzelne und bisweilen einsame ganz für sich. Gruppendynamik urbaner Art, großstädtischer Kollektivismus, eilig bis hektisch - eben in tragischer Dramatik, dann in federnder Spaßigkeit.

Es wird ein Mix von klassischer Spitze über Modern Dance bis zum sportiven Jazz- und Discostil getanzt - die Mainzer Tänzer geben damit auch eine Probe ihrer erstaunlichen Vielseitigkeit ab. Bald okkupiert ein kraftvoll springendes, wirbelndes Männerquartett in verfremdeter Kosakenmanier die Vorderbühne, bald swingt die ganze gemischte Städtergruppe dichtgedrängt zur Hintertür hinaus. Das alles spielt sich hinter einem Transparentvorhang ab, der, momenthaft undruchsichtig gemacht, den dann blitzschnell neuformierten Folge- szenen stets einen Überraschungs-Effekt mitgibt.

Diesem allweil vorwärtsdrängenden herrlichen Exzess schaltet Schläpfer seine Tanzausformung von Beethovens Diabelli-Variationen vor. Im Vergleich haftet den 34 Szenen klassischer Ernst an. Einerseits werden musikalische Strukturen tänzerisch adaptiert, andererseits Aspekte von Vita und Persönlichkeit Beethovens thematisiert. Immer wieder ertanzte Assoziationen von Zerrissenheit: eine Frau zwischen zwei Männern etwa, oder Mann und Frau sich im Bettzeug findend und doch verlierend.

Schläpfer erzählt einmal mehr keine Geschichte, sondern erzeugt in vielen kleinen Szenen viele verschiedene Atmosphären - öffnet dem Zuseher freie Deutungsmöglichkeiten, die der Kundige auf Beethoven beziehen kann, so er will. Jener geistesabwesende, in sich hineinhörende Mann (Jörg Weinöhl), den Marlúcia do Amaral hereinführt und Yuko Kato durch die leere Bühnenwelt geleitet - wir sehen in ihm den alten, den ertaubten Giganten.

Schläpfers Arbeit reißt nicht spontan mit wie die von Christe, sie will näher betrachtet und bedacht sein. Doch ihre Kunstfertigkeit ist im Kleinen so wunderbar wie die erreichte Weite des Schläpferschen Figurenrepertoires bewundernswert.
   Andreas Pecht
 
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