Thema Gesellschaft / Zeitgeist
homezur Startseite eMail an Autor • eMail to author • contact auteureMail an den Autor Seitenübersicht • sitemap • Plan du siteÜbersicht sitemap Seite drucken • site print • imprimer siteArtikel drucken

2004-10-05 Essay Teil 2:
Familie unterliegt dem Zeitenwechsel

Idylle-Bilder erschweren Diskussion über familiäre Möglichkeiten - Teil 2


(Zu Teil 1dieses Essays hier anklicken
2004-10-04 Essay Teil 1:
Ohne Möglichkeit der Lebensplanung
ist Familiengründung schwierig



ape. "Familie ist Urzelle und tragende Säule jeder Gesellschaft." So die gemeinhin als grundlegend akzeptierte These. Sie ist nach Ansicht unseres Autors allerdings nur dann richtig und für die Familiendiskussion heute tauglich, wenn der Familien-Begriff nicht auf die lebenslängliche Kleinfamilie als Norm eingegrenzt wird.

Welt und Geschichte kennen eine Vielzahl von Familienformen, die sich erheblich von derjenigen unterscheiden, die man hier zu Lande seit etlichen Generationen für idealtypisch hält. Hierzu eine wertneutrale Messzahl als Anhalt: Von 849 weltweit erforschten Kulturen etwa herrschte nur in 137 (16 Prozent) die monogame Ehe vor. In 712 Kulturen (84 Prozent) galten hingegen polygame Verbindungen als normal.

Niemand bestreitet den Segen, den ein hoher Anteil möglichst stabiler Familienverhältnisse für ein Gemeinwesen bedeutet. Unverkennbar ist auch, welches Maß an lebenspraktischem Nutzen, an Schutz und Geborgenheit, womöglich an persönlichem Glück aus der privaten Solidargemeinschaft Familie erwachsen kann.

Stamm, Clan, Sippe

Ebenso unverkennbar ist, dass solche Effekte quer durch die Geschichte auch von anderen familiären Gemeinschaften als der Vater-Mutter-Kind-Triade erzielt wurden: Stamm, Clan, Sippe überwogen lange; das Paar war nur Teil des Familien-Ganzen. Die Kinder wurden nach der Stillzeit in gemeinschaftliche Obhut entlassen - ein Prinzip, das wir in vielen, auch modernen Kulturen wiederfinden.

Selbst für das europäische Mittelalter war die "auf ewig" geschlossene Ehe keineswegs selbstverständlich. Allein die hohe und frühe Sterblichkeit machte mehrfache Neuverheiratungen, Patchwork-Familien und andere Zusammenschlüsse in großer Zahl notwendig. Wie die gesamte Sklavenpopulation der Antike, so brauchte auch ein Großteil der einfachen Bevölkerung des Mittelalters gar nicht erst an Heirat zu denken: Knechte, Mägde, Gesellen, besitzloses Gesinde jeder Art blieben zumeist alleinstehend, lebend in Gemeinschaftsunterkünften oder aufgenommen in Randbereiche "herrschaftlicher" Haushalte. Überhaupt war für die meisten Menschen damals eher der Haushalt Nabel der Welt als die Familie.

1563 versuchte das Konzil von Trient mit dem Dekret Tametsi den "Wildwuchs" der Lebensgemeinschaften einzudämmen und setzte die Ehe in den Stand eines kirchlichen Sakramentes: Wo zuvor ein privates Versprechen unter vier Augen genügt hatte, schlossen nun Priester vor Zeugen unlösbare Bünde fürs Leben. Begleitet wurde diese Neuerung nachfolgend von einer Glaubensoffensive der Jesuiten zur Verehrung der "Heiligen Familie". Damit hielt ein Familienverständis Einzug in die Geschichte, das es bis dahin nie gegeben hatte: Die harmonische Vater-Mutter-Kind-Triade als religiös fundiertes Ideal nach dem Vorbild von Josef-Maria-Jesuskind.

Das Ideal ist geblieben, aber die Wirklichkeit wich von jeher erheblich davon ab. Generationskonflikte, Beziehungskrisen, sozialer Druck, innerfamiliäre Diktatur  ...: Die Familie war stets auch Quell von Unglück; Statistiker weisen sie als denjenigen Raum aus, in dem die meisten Gewalttaten begangen werden. Je brüchiger das Ideal, umso mehr sprießen Sehnsüchte danach. Das Biedermeier zeichnete Familie als Wohnzimmeridyll, erfand die Frau als ganz und gar dem Wohlbefinden des Mannes hingegebene Gattin und liebevoll rund um die Uhr die Kinder umsorgende Mutter. Ein Traum oder je nach Sichtweise auch ein Albtraum, der im Wirtschaftswunder-Deutschland seine größte Blüte erlebte.

Doch das Meiste am Ideal war nie real. Voll erwerbstätige Frauen sind keine Erfindung moderner Emanzipation. Frauen mussten immer arbeiten, in den 1930ern gingen in Deutschland bereits 53 Prozent, 1991 erst 58 Prozent einer Erwerbsarbeit nach. Zur Mitte des 20. Jahrhunderts hieß die tatsächliche Alternative oft: Entweder du wäschst die Familienwäsche von Hand, kochst deine Lebensmittel selber ein - oder du gehst arbeiten, um Waschmaschine und Konserven kaufen zu können; Kraft- und Zeitaufwand sind am Ende hier so groß wie da. Auch Frauen in Handwerker- und Bauernhaushalten hatten wahrlich anderes zu tun, als sich den lieben langen Tag um Kinder und Mannesglück zu kümmern. Das historisierende Wohnzimmeridyll entsprang der Lebenssphäre des wohlhabenden Bürgertums. Allerdings zeigt es bloß die annehmliche Kulisse einer Welt, hinter der Amme und Hauslehrer die Kinder betreuten, Köchin und Hausdiener die Wirtschaft besorgten.

Viele Probleme auch der aktuellen familienpolitischen Diskussionen rühren daher, dass die Ideale von Familie verwechselt werden mit tatsächlichem Familienleben. Letzteres passt sich seit jeher gezwungener Maßen dem Wandel der Erwerbsbedingungen an. Gehörte im 19. Jahrhundert die Großfamilie noch zum Hof freier Bauern, so war gleichzeitig in den Industriezentren ein Drei-Generationen-Arbeiterhaushalt schiere Unmöglichkeit. Wenn die heutige Wirtschaftslibertinage langfristige Lebensplanung und Sesshaftigkeit zusehends unmöglich macht, dann verändern sich zwangsläufig auch der Wille zur Familiengründung sowie Festigkeit und Dauerhaftigkeit der Familie; die Familie selbst verändert sich.

Alle Solidarformen fördern

Das Festhalten am Ideal mag vereinzelt gelingen. In der Breite der gesellschaftlichen Wirklichkeit bleiben indes nur zwei Möglichkeiten: Entweder die Ökonomie wird auf einen Kurs gezwungen, der die Familie zum Maßstab des Wirtschaftens macht. Oder Staat und Gesellschaft müssen weitere Teile jener Aufgaben übernehmen, die das Ideal zwar der Familie zuweist, die in der Realität aber von den Familien der breiten Bevölkerung schon früher kaumund heute erst recht nicht mehr erfüllt werden können. Dazu gehört in diesen Zeiten des Wandels die Anerkennung und Förderung auch neuer, ungewohnter, vielleicht befremdlicher Formen solidarischer, den Nächsten liebender Familiarität.
Andreas Pecht

---------------------------------------------------------
2004-10-04 Essay Teil 1:
Ohne Möglichkeit der Lebensplanung
ist Familiengründung schwierig
 
Diesen Artikel weiterempfehlen was ist Ihnen dieser Artikel
und www.pecht.info wert?
 
eMail an Autor • eMail to author • contact auteureMail an den Autor
eMail an webmaster • eMail to webmaster • contact webmastereMail an webmaster Seitenanfang • go top • aller en-hautan den Anfang Seite drucken • site print • imprimer siteArtikel drucken