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2004-07-22 Romankritik:
Walser verteidigt Walser

Roman "Der Augenblick der Liebe" besingt nebenbei die Lust, führt in der Hauptsache den alten Schuld-Streit weiter
 
ape. Für die Literaturszene ist dies die Woche des Martin Walser. Am morgigen Freitag kommt dessen neuer Roman "Der Augenblick der Liebe" mit einer Startauflage von 100 000 Exemplaren in den Buchhandel. Seit 20 Jahren stehe der Stof f schon in seinen Notizbüchern, beteuert der Autor. Doch das fertige Werk weckt den Verdacht: Walser hat eine Streitschrift zur Verteidigung Wal-sers geschrieben.
 
Neue Bücher von Martin Walser sind hier zu Lande stets besonderes Ereignis, zumal seit dem großen Krach um des Autors Frankfurter Friedenspreisrede 1998 über die deutsche Schuldfrage. Von dort zieht sich eine Disput-Linie zum 2002 erschienenen Kolportagekrimi "Tod eines Kritikers", dem seinerzeit vorgeworfen wurde, antisemitische Klischees zu bedienen. Im Jahr zuvor, 2001, hatte Wal-sers Roman "Der Lebenslauf der Liebe" ebenfalls ein heftig widersprüchliches Echo ausgelöst. Da ging es nicht um politische Fragen, sondern um literarische: Von "großer Liebesroman" bis zu "totaler Schund" reichten die Reaktionen. "Langatmig, geschwätzig und trivial" urteilte unsere Zeitung damals über die Geschichte einer einfältigen Frau an der Seite eines reichen Egozentrikers.

Walsers jetzt erscheinendes Werk, "Der Augenblick der Liebe", verknüpft die beiden Themenkomplexe miteinander. Einerseits wird von der hereinbrechenden Liebe zwischen dem weit über 60-jährigen Ex-Makler und Privatgelehrten Gottlieb Zürn und der noch fast jugendlichen amerikanischen Doktorandin Beate Gutbrod erzählt. Das Andererseits ergibt sich aus dem Stoff, der die beiden zusammen führt: Der französische Philosoph Julien Offray de la Mettrie (1709-1751), über den Beate forscht, über den Gottlieb Jahre zuvor zwei denkwürdige Essays geschrieben hatte.

Gottlieb Zürn (bekannt schon aus den Walser-Romanen "Das Schwanenhaus" und "Die Jagd") ist seit ewigen Zeiten mit Anna verheiratet. In deren Gegenwart findet im Ehedomizil am Bodensee die Erstbegegnung zwischen dem Senior und der blutjungen, wissbegierigen Amerikanerin statt.

Von den Momenten der Beunruhigung, die sich da und von da aus in Gottliebs Kopf und Gemüt drängen, handelt das erste und beste Kapitel des neuen Romans. 45 Seiten, die Walser auf der Höhe seines Könnens zeigen, die mit angedeuteten Möglichkeiten und des alten Zürns Angst vor deren Missdeutung spielen. 45 Seiten, auf denen das Wohlempfinden und das gleichzeitige Unbehagen am vertrauten Lebensrhythmus im sicheren (Ehe-)Hafen von den Ahnungen kommender Stürme bedroht werden. 45 Seiten, in denen ein älterer Herr fassungslos zwei Wunder bestaunt: die Vertrautheit mit der langjährigen Gattin auch im Moment des Schweigens; die urgewaltige Lockung, die von kleinsten Gesten und Blicken einer 40 Jahre jüngeren Frau ausgehen. Dies erste Kapitel breitet kunstvoll den Stoff aus, der zu einem großen Altersroman über die wundersamen Wendungen der Liebe hätte führen können. Doch dafür hat Martin Walser leider keine Zeit - er muss seinen Krieg gegen vermeintliche Denkzensoren und Gutmenschen-Diktatoren weiterführen. Die Philosophie La Mettries ist seine neueste Waffe.

Zwischen Gottlieb und Beate entsteht eine transatlantische, sich immer stärker erhitzende Liebeskorrespondenz. Die fegt, gestützt auf langatmige Einlassungen über La Mettrie, alle Alters- und Untreuevorbehalte hinweg, zieht den erregten alten Mann nach Amerika, in den gierenden Schoß der jungen Frau. Der französische Philosoph hätte solches Verhalten begrüßt - denn sofern es dem Körper angenehm, könne es ethisch nicht verwerflich sein.

Walser verhilft dem von Lessing als "Pornographen" beschimpften, sonst kaum zu Bedeutung gelangten Philosophen zu neuer Aufmerksamkeit. Er lässt seinen Gottlieb Zürn an der Universität Berkley einen Hymnus auf La Mettrie vortragen, der danach gestrebt habe, "die menschliche Gattung von Schuldgefühlen zu befreien". Doch statt in eine Diskussion zum Thema einzusteigen, beschimpft die amerikanische Zuhörerschaft den Redner als einen, der La Mettrie benutze, um den Deutschen einen Freispruch erster Klasse zu beschaffen.

Damit stecken wir, eine andere Lesart scheint kaum möglich, mitten drin in all den Walser-Streits, die 1998 in Frankfurt ihren Ausgang nahmen. Gottlieb Zürn flieht zurück in den schützenden Hafen - und Walser zürnt weiter. Was einem wunderbar begonnenen Roman leider die Durchführung auf literarischer Höhe verwehrt.   Andreas Pecht

 Martin Walser: "Der Augenblick der Liebe". Rowohlt, 254 Seiten, 19,90 Euro.
 
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