Thema Wissenschaft / Bildung
Thema Menschen / Initiativen
homezur Startseite eMail an Autor • eMail to author • contact auteureMail an den Autor Seitenübersicht • sitemap • Plan du siteÜbersicht sitemap Seite drucken • site print • imprimer siteArtikel drucken

2004-06-25 Essay:
Vergebliche Suche nach dem goldenen Zeitalter der Senioren

Nutz und Last der späten Lebensjahre im Spiegel der Geschichte - Wertschätzung und Geringschätzung der alten Menschen lagen zumeist eng beieinander
 
ape. "Früher ging es den Alten gut." Die Anschauung vom dereinst goldenen Zeitalter der Senioren ist populär. Auch zutreffend? Ein von Idylle-Träumen unverstellter Blick in die Geschichte begegnet zwiespältigen Verhältnissen. Wertschätzung und Geringschätzung für das Alter stehen seit jeher eng beieinander, Generationskonflikte kennt jede Epoche. Entscheidender Unterschied zum Heute und Morgen: In historischer Zeit bildeten alte Menschen nur einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung.
 
Was ist das eigentlich, Alter? Mit dieser scheinbar so simplen Frage stolpert man unversehens in ein Minenfeld. Wann, Herr Kollege oder Frau Nachbarin, müssen, sollen, dürfen Sie denn als "alt" gelten? Der moderne Sozialstaat macht da keine Umstände: Seit der Bismarckschen Sozialgesetzgebung wird Alter nach Lebensjahren bemessen; spätestens mit 63 geht sie, mit 65 geht er in Rente. Was seit Generationen als Altersgrenze gilt, ist freilich willkürlich gesetzt - wie die aktuelle Diskussion über eine Anhebung des Rentenalters verdeutlicht.

Die Definition des Altersbegriffes mittels der Zahl verstrichener Lebensjahre ist geschichtlich betrachtet ohnehin ein Sonderfall. Unzähligen Geschlechtern wäre eine solche Praxis absurd vorgekommen. Unser steinzeitlicher Vorfahre hatte keinerlei Vorstellung von Erwachsenen-Alterung. Denn aufgrund der Lebensbedingungen erreichte kaum ein Urmensch auch nur das 30. Lebensjahr. Mit spärlichen, nur langsam sich entwickelnden Kenntnissen und Werkzeugen der Natur die Mittel zum Überleben abringen, diese Notwendigkeit prägte über Jahrtausende die Lebensweisen der Menschen, bestimmte Lebenserwartung und Altersbild.

Bei den Vorfahren wurde früh gestorben. Von der Antike bis ins 18. Jahrhundert überlebte die Hälfte aller Geborenen das erste Jahr nicht. Im alten Rom erreichten nur ein bis drei Prozent eines Jahrgangs die 70. Noch im 16. Jahrhundert konnten in europäischen Städten allenfalls 15 Prozent der Menschen ihren 50. Geburtstag feiern. Verglichen mit heute war der Anteil Älterer und Alter an der Population winzig, demgemäß auch das Altersproblem gesamtgesellschaftlich von untergeordneter Bedeutung.

Grundlegend galt für alle nicht zur Herrschaft gehörenden Menschen: Wer leben will, muss arbeiten, muss der Stammes-, Sippen-, Familien-Gemeinschaft nützen - wie alt auch immer er sei. Folglich wurde in den meisten Epochen der Eintritt in die "Spätphase" des Lebens nicht nach Jahren definiert, sondern ergab sich aus dem Leistungsvermögen des Einzelnen automatisch. Jeder arbeitete, so lange er konnte. Da bestellte dann gelegentlich ein zäher 70er den Acker besser als ein schwächelnder 50er. Ein Sachverhalt, der heute wieder Bedeutung gewinnt, vorerst indes noch weitgehend abseits des Arbeitsmarktes. "Man ist so alt wie man sich fühlt" sagt der Volksmund und spricht damit unbewusst auf das weit gefächerte Kräftespektrum an, das im gleichen Altersjahrgang vergreiste Männer und Frauen neben solchen aufweist, die noch "voll im Saft stehen".

Wirkliches Alter definierte sich in Vorväter-Zeiten über das Nachlassen der persönlichen Kräfte. Gebrechlichkeit wird in Gemeinschaften, die generell am Existenzminimum leben, zum Problem: Der Senior verbraucht Lebensmittel, kann sie aber selbst nicht mehr in genügender Menge "produzieren". Alter wird zur Last, gar zur existenziellen Bedrohung für die Sippe. Es kommt zu Konflikten, die in einigen Frühgesellschaften durch Aussetzung oder Tötung der Alten gelöst wurden, die in allen Epochen dazu führen, dass Alte häufig ihrem Schicksal überlassen werden.

Im antiken Griechenland und Rom waren wegen Krankheit und Alter ausgesetzte Sklaven eine "Landplage". Aber auch armen Freien konnte es ohne "Altenteil" übel ergehen. Denn die antiken Hochkulturen kannten zwar eine Verpflichtung der Kinder zur Versorgung ihrer Eltern (und umgekehrt), wo es aber beiden Generationen am Nötigen mangelte, war Hilfe meist fern. Staat und Gesellschaft der Antike pflegten einerseits ideell eine sehr hohe Wertschätzung des Alters, kannten andererseits eine materielle Fürsorgepflicht nur gegenüber ihren Militärveteranen. Ansonsten blieben Versorgung im Alter, bei Armut oder Krankheit Privatangelegenheit - auch im Sinne privater Wohltätigkeit.

Im europäischen Mittelalter waren die Verhältnisse kaum anders: Wer keinen Boden oder kein Geschäft sein Eigen nennt, auf den wartet im Alter bestenfalls ein kärglich' Gnadenbrot hinterm nicht minder kärglichen Ofen des Sohnes. Dieser "Pflicht" verleiht das christliche Gebot "Du sollst Vater und Mutter ehren" Nachdruck. Doch wo nichts ist, Herr Jesus Christ - da bleiben religiöse Maximen, bleibt sogar der aus heidnischer Tradition resultierende Urrespekt vor den Alten (als Träger des rituellen Wissens und wegen ihrer Nähe zu den Ahnen) auf der Strecke. Da landen arbeitsunfähige Senioren eben doch am Bettelstab oder im Siechenhaus - angewiesen auf das, was das christliche Almosen-Gebot erbringt.

Die Rede war hier von der Mehrheit der historischen Population (ohne Frühzeit), also von Sklaven, Leibeigenen, Pachtbauern, Gesinde, Gesellen... - über die und deren Altersschicksale die Chronisten sich weitgehend ausschweigen. Unser Bild vom Damals prägen Überlieferungen von der Lebensart der privilegierten Minderheit antiker Vollbürger oder mittelalterlicher freier Bauern und Stadthandwerker, eingebunden in einen (groß-)familiären Hausstand und ausgestattet mit vererbbarem Besitz. Auf solchem Untergrund entwickelte sich auch das Denken von den hohen Werten des Alters zur bisweilen staatstragenden Struktur und Philosophie.

Platon (427-348 vor Chr.) misst in seinem Entwurf für einen idealen Griechenstaat den Alten (50 bis 75 Jahre) eine zentrale Rolle zu. Zwar nehmen deren körperliche Fähigkeiten ab, aber Verstand und Erfahrung wachsen. Deshalb seien es die "Greise" (Gerontes), deren Rat infolge ihrer Vernunft das höchste Gewicht haben soll. Rund 300 Jahre später spricht in Rom Cicero den betagten Senatoren besondere Qualitäten in "Planung, Überlegung und Entscheidung" zu. Der Geschichtsschreiber Livius fasst an der Wende zur christlichen Zeit zusammen, worin seit Homer (8. Jahrhundert vor Chr.) in Athen und Rom die Wertschätzung für hochbetagte Patrizier gründet: Weisheit, Lebenserfahrung und Besonnenheit. Die Wertschätzung steigert sich zu Verehrung, gesellt sich zu den geistigen Qualitäten noch Rüstigkeit.

Das kommt uns bekannt vor. In der Tat entspricht das heutige Altersideal weitgehend dem damaligen - und hat heute mit der Realität so wenig zu tun wie ehedem. Denn beide, Platon und Cicero, schrieben als bejahrte Männer gegen Entwicklungen an, die ältere Bürger, selbst die vornehmsten, systematisch an den Rand der Gesellschaft, sogar ihrer Familien drängten. Das "demokratische" Athen war eine junge, dynamische Gesellschaft, die für Besonnenheit keine Zeit hatte, deren Söhne mit dem Erben nicht bis zum Tod des Vaters warten wollten. Ähnlich ging's nachher im Übergang zum Kaisertum des Augustus in Rom zu. Die Jungen verbeugten sich zwar vor den Senioren, nahmen ihnen aber zugleich Zug um Zug Besitztümer und öffentliche wie private Macht aus den Händen - ein Prozess, den wir im Kleinen mit seinen oft hässlichen Begleiterscheinungen bis heute bei Bauern-, Unternehmer- und Hausbesitzerfamilien, bei Firmen, Ämtern oder Parteien verfolgen können.

Der neuantike Jugendwahn war Gegenbewegung zur vorherigen Altersdominanz: Über mehrere Generationen waren in Athen und Rom die ("edlen") Senioren bis zum Ableben uneingeschränkt besitzende und bestimmende Kraft. In Sparta hatte diese "Gerontokratie" gar Formen einer Altersdiktatur angenommen. Alles Schnee von vorvorgestern? Dazu ein Blick auf die jüngsten Jahrhundertwechsel: Das 20. Jahrhundert begann mit einer großen "Jugendbewegung", die sich aus den Fesseln der wilhelminischen Altersherrschaft befreien wollte. Dies "jugendliche" Jahrhundert endete mit dem 1999 von der UNO ausgerufenen "Jahr der älteren Menschen" - was nun die Grundtonart für die Demographie des 21. abgibt.

Wer in der Geschichte nach dem Senioren-Paradies sucht, sucht vergeblich. Stattdessen findet er viele harte Zeiten für Alte. Findet einen scheinbar ewigen Generationenkonflikt, der umso schärfer ausfiel, je schmaler die Überlebens-Ressourcen waren oder je geschwinder neue Entwicklungen in Erkenntnis, Technik und Kultur voranschritten. Und er findet sich ablösende Phasen von Altersherrschaft oder Jugendwahn, die eines gemeinsam hatten: unausweichliche Verfallsdaten.

Was für Gemeinwesen mit winzigem Altenanteil galt, droht sich in unserer Gesellschaft mit ihrer absehbaren Altersmehrheit (auf übervölkertem Globus) extrem zu verschärfen. Die Geschichte kann da nur eines lehren: Unser Zusammenleben muss in einer Art gewandelt werden, die es Jüngeren wie Älteren erlaubt, auf je eigene Weise ihre Fähigkeiten einzubringen und zugleich ihre Eigenarten in toleranter Koexistenz auszuleben. Das schließt Dominanz einer Generation aus, schließt indes die Gewährleistung eines anständig versorgten Alters ebenso selbstverständlich ein wie die anständig versorgte Kindheit.

Andreas Pecht
 
Diesen Artikel weiterempfehlen was ist Ihnen dieser Artikel
und www.pecht.info wert?
 
eMail an Autor • eMail to author • contact auteureMail an den Autor
eMail an webmaster • eMail to webmaster • contact webmastereMail an webmaster Seitenanfang • go top • aller en-hautan den Anfang Seite drucken • site print • imprimer siteArtikel drucken