Kritiken Bücher
homezur Startseite eMail an Autor • eMail to author • contact auteureMail an den Autor Seitenübersicht • sitemap • Plan du siteÜbersicht sitemap Seite drucken • site print • imprimer siteArtikel drucken

2003-02-27 Buchkritik:
Philip Roth erzählt von Genuss,
Erfahrung und Alter

"Das sterbende Tier": Anstößiger und aufregender Blick eines Seniors auf sein freies Lust-Leben und die späte große Liebe

 
ape. Selbstredend kommt ein "unanständiges" Buch heraus, wann immer Philip Roth zur Feder greift. Libido oder deren Unmöglichkeit treibt seine Figuren, Sex oder dessen Verhinderung seine Handlungen an: Für den großen alten Mann der US-Literatur ist Fleischeslust die vielleicht größte Lebensmacht - und deren Unterdrückung durch puritanische Konvention eine kleinliche Tyrannei gegen wirkliches Leben. Beispielhaft hatte Roth das in seinem Roman "Der menschliche Makel" (2002) mit der Beziehung zwischen dem Literaturprofessor Coleman und der Putzfrau Faustina vorgeführt: In ihrer Lust aneinander fanden die beiden Trost und Freude, doch die Umgebung mochte derartige Zweisamkeit nicht dulden.
 
Wie sein fast gleichaltriger Kollege John Updike in "Gegen Ende der Zeit", so hat der 70-jährige Roth in seinem jüngsten Roman "Das sterbende Tier" einen betagten Schwerenöter auf eine junge Frau losgelassen (oder umgekehrt?). Wo Updike mit miefiger Ehepraxis im spießigen US-Mittelstand abrechnet, singt Roth - aus nämlichem Grund - ein Mal mehr das hohe Lied ehrlicher, promisker Ehelosigkeit. Man muss die radikalen Thesen des reaktivierten Roth-Protagonisten David Kepesh nicht teilen, um einige Quäntchen Wahrheit in seinem Befund über manches Ehedrama zu erkennen.

Kepesh, Kunstkritiker und Uni-Dozent, zählt zu Beginn des Buches 62 Lenze und ist dabei, Consuela, eine 24-jährige Busenschönheit, zu "erobern". Am Ende hat er 70 Jahre auf dem Buckel und eilt ins Krankenhaus, um der jungen Frau die Hand zu halten, während Chemotheraphie und Skalpell ihr die "schönsten Brüste der Welt" und womöglich das junge Leben selbst vernichten. Dazwischen liegen für den "Professor der Begierde" ungewohnte Erfahrungen: Er, der Monogamie stets für eine Absurdität hielt, der glaubt, dass man nur beim Sex "voll und ganz lebendig, voll und ganz man selbst" ist, wird plötzlich von der "Pornografie der Eifersucht" befallen. Das Kino im Kopf gaukelt ihm Nachstellungen seiner Consuela durch andere vor: Ein junger Mann werde sie ihm, dem alten, wegnehmen, fürchtet er - weil er selbst es früher so gemacht hätte. Und der betagte Don Juan verfällt auf das miese Instrumentarium der Eifersucht: Verdächtigung, Kontrolle, Selbsterniedrigung. Die Befreiung von Consuela nach eineinhalb Jahren hat etliche Jahre Depression und Nicht-Loslassen-Können zur Folge. Bis zur Wiedervereinigung im Krankenhaus.

"Das sterbende Tier" ist eigentlich kein Roman, eher lose verbundenes Rückblicken, eine große Suada mit zum Teil beinahe essayistischen Exkursen, gerichtet an einen nur vage angedeuteten Besucher. Kepesh erzählt von seinem sich grämenden Sohn und dessen Wahn, trotz missratener Ehe sogleich die Geliebte heiraten zu wollen. Kepesh ruft amerikanische Geschichte auf, legt Entwicklungen zu restriktiven Normen in den heutigen USA dar, erinnert an die Anfeindungen freisinniger Pioniere durch puritanische Gemeinden. Kepesh schwärmt von der sexuellen Befreiung in den 60er- Jahren, die ihn aus ehelicher Tristesse heraus- und in ein Leben frei genossener Libido hineinkatapultiert habe.

Der Typ ist ein arger Chauvi, ohne Zweifel. Er provoziert bisweilen heftigen Widerspruch beim Leser, mehr wohl noch bei der Leserin. Aber Kepesh ist ein Mann, der die Frauen liebt, sie stets - und damit sich selbst - beglücken will. Und Philip Roth erlaubt ihm nicht, sich nach amerikanischer Mittelstands-Moralkonvention zu verstellen. Die Zwangsnormen ihrer Ehen brechen andere, nicht er, der bewusst und gewollt unverheiratete Sexomane. Schmeißt der greise Schriftsteller Philip Roth sein bisheriges Credo über den Haufen, indem er seinen Helden im Alter erstmals die (uneingestandene) Erfahrung der großen, sich zuletzt gar über den Sex erhebenden Liebe machen lässt? Ja, man kann "Das sterbende Tier" als ein Werk von Altersbesinnung lesen, denn Roth und sein Kepesh sind an neuen Ufern gelandet - aber ihr anstößiger, aufregender Rückblick ist frei von Bedauern.
Andreas Pecht

 Philip Roth: "Das sterbende Tier". Hanser, 165 Seiten, 16,90 Euro
 
Diesen Artikel weiterempfehlen was ist Ihnen dieser Artikel
und www.pecht.info wert?
 
eMail an Autor • eMail to author • contact auteureMail an den Autor
eMail an webmaster • eMail to webmaster • contact webmastereMail an webmaster Seitenanfang • go top • aller en-hautan den Anfang Seite drucken • site print • imprimer siteArtikel drucken