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1999 Buchkritik:

Durch die Nazi-Hölle zum Olymp

Die teils ergreifenden, teils unterhaltenden Lebenserinnerungen des Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki

 
ape. Normalerweise gehen seine Kollegen nicht eben sanft mit dem Großmeister der literaturkritischen Zunft um. Denn so bekannt Marcel Reich-Ranicki ist, so umstritten ist er auch. Doch MRRs eben erschienenen Memoiren "Mein Leben" werden allenthalben mit Samthandschuhen angepackt. Aus gutem Grund: Sie erzählen "eine der ergreifendsten Lebensgeschichten unseres Jahrhunderts" (Spiegel).
 

NWer es nicht aus seinen unzähligen, seit 1958 in westdeutschen Blättern publizierten Artikeln weiß, konnte es als Zuschauer des "Literarischen Quartetts" immer wieder erfahren: Kleinste Spuren von Antisemitismus bringen Marcel Reich-Ranicki in Rage; sein großes Thema ist die Liebe, die Suche danach und ihr Verlust; er selbst hat sich mit Kopf und Herz der Literatur verschrieben, der deutschen insbesondere. Dies sind zentrale Konstanten im Leben des Kritikers, der wie kein anderer Einfluß, ja Macht in seinen Händen konzentriert hat.

Diese Konstanten erklären sich aus dem Leben des 1920 in Polen geborenen Juden. Die Mutter wollte von einer Erziehung des Knaben in mosaischer Tradition nichts wissen, sie schickte ihn auf eine deutsche Schule, stellte ihm Deutschland als "Land der Kultur" vor. Eine entscheidende Weichenstellung. Marcel wuchs in diese Kultur hinein, blieb dort beheimatet - die Familie siedelte 1929 nach Berlin um, wo der Jüngling entschlossenen Schrittes immer tiefer in die Welt von Theater, Musik, Literatur hineinschritt.
In dieser Welt suchte er auch Beruhigung angesichts des wachsenden und sich brutalisierenden Antisemitismus. Aus Schilderungen des schulischen und Beobachtungen aus dem sonstigen Alltag ersteht ein Widerspruch, der Reich-Ranicki als lebenslange Frage begleitet: Wie kann ein Land Hort der Kultur sein und zugleich Schoß, der die ärgste aller Barbarei gebiert? In seiner typischen Art bringt der Autor es nachher auf die Formel: "Deutschland - das sind in meinen Augen Adolf Hitler und Thomas Mann." 1938, bald nach seinem Abitur, wird der junge Mann, der nichts mehr liebt als deutsche Literatur und Musik, nach Warschau zwangsdeportiert.

Es folgen die bewegendsten, bedrückendsten, psychologisch aufschlußreichsten Kapitel der Autobiografie: Jahre der Todesangst, des Entsetzens, des Überlebenskampfes im Warschauer Ghetto; Eltern, Freunde, Nachbarn verschwinden ungezählt über die "Rampe" in die Waggons zu den Gasöfen von Treblinka. Er, der Übersetzer im "Judenrat", der Musikkritiker der Ghetto-Zeitung überlebt, zufällig, zusammen mit Tosia, dem Mädchen, das er heiratete, um ihren Gang zur "Rampe" hinauszuzögern. Dann Jahre (bis Kriegsende) der Angst, des Hungers, der Trostlosigkeit im Versteck bei einem armen Polen.
In dem er von sich und Tosia - seiner Lebenspartnerin bis heute - erzählt, wird Reich-Ranicki zum authentischen Zeitzeugen und sein Buch zu einem über Deutschland. Einem wichtigen zumal. Nicht große Klage oder Anklage prägt den Ton seiner Erinnerungen. Still, ruhig, wie zur Seite gesprochen, schildert er, was Grausames geschah, spricht er vom tiefsten Schmerz. Und wir verstehen manches, was uns heute am gelegentlich ruppigen oder scheinbar verbohrten Gebaren des Marcel Reich-Ranicki so irritiert.

Nur das letzte Drittel des Buches widmet sich dem noch andauernden Lebensabschnitt als Kritiker in der Bundesrepublik. Zwar bleibt der Ton dezent, aber in diesem Parforceritt durch die jüngere Geschichte der deutschen Literaturszene tritt uns MRR als Wohlbekannter gegenüber: Anekdotisch, launisch, unterhaltend, gelegentlich brüskierend im Urteil gerade gegenüber Freunden und den echten oder vermeintlichen Größen des Literaturbetriebs.
                                                                                  Andreas Pecht
Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben. DVA, 565 S.


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